Ernährung in der Industrialisierung
Die Fabrikmahlzeit als Phänomen der Sozialgeschichte
Tischsitten und Essgewohnheiten waren lange ein eher randständiges
kulturgeschichtliches Thema. Erst die Beschäftigung mit den weltweiten
Problemen der Versorgung einer wachsenden Bevölkerung hat den Blick der
Historiker geschärft für die Strategien zur Überwindung von Mangel und
Hunger. Was wo und von wem gegessen wird, hängt - so wissen wir heute -
nicht nur von der Verfügbarkeit der Nahrungsmittel ab, sondern ebenso von
hierarchischen Ordnungsvorstellungen, sozialen Beziehungen und
wissenschaftlichen Normsetzungen. Der Wandel der Ernährungsweisen ist
deshalb zu einem Forschungsfeld geworden, das wirtschafts-, sozial- und
wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen integrieren muss. Wie diese
verschiedenen Ansätze zu einer erhellenden Gesamtschau verwoben werden
können, zeigt die Habilitationsschrift des an der Universität Zürich
lehrenden Historikers Jakob Tanner. Am Beispiel der Fabrikmahlzeit
untersucht er, wie sich in der Schweiz zwischen 1890 und 1950 unter den
Einwirkungen der Industrialisierung die Wahrnehmung der Volksernährung und
die Einstellung zur ausserhäuslichen Verpflegung verändert haben.
Rationalisierung
Dass im ausgehenden 19. Jahrhundert die Lösung der «sozialen Frage» vor
allem über die Verbesserung der Ernährungssituation der Unterschichten
angegangen wurde, ist auf die säkulare Erfahrung des Mangels zurückzuführen.
Die optimale Verwertung und Verteilung der knappen Nahrungsmittel
beschäftigte nicht nur Sozialreformer und Behörden, sie wurde auch zu einem
zentralen Thema der Natur- und der Sozialwissenschaften. Im ersten Teil
seiner Darstellung geht Tanner dieser Verwissenschaftlichung der
Ernährungsproblematik nach: dem von der Physiologie entwickelten Modell des
menschlichen Körpers als «Motor», dem genügend Nährstoffe zugeführt werden
müssen, um seine Leistungsfähigkeit zu erhalten, der neuentstehenden
Arbeitswissenschaft, die in tayloristische Rationalisierungsideen mündete,
und der auf Haushaltrechnungen aufbauenden Konsumstatistik, die den Konnex
zwischen Kaufkraft und Ernährungsstandard thematisierte. Die Umsetzung der
wissenschaftlich abgestützten Forderung nach «rationeller Ernährung» griff
einerseits über die Etablierung von Kostnormen und Geldnährwerten in die
Familienwirtschaft ein. Die Verantwortung für die Erhaltung der Volkskraft
bei sparsamem Mitteleinsatz konnte nun den kochenden Hausfrauen
zugeschoben werden. Das führte zu einer Verstärkung der
geschlechtsspezifischen, die Frauen benachteiligenden Aufgabenzuweisungen
und Ressourcenzuteilungen. Anderseits setzen die durch Versorgungslücken
und Lebensmittelteuerung ausgelösten sozialen Konflikte während des Ersten
Weltkriegs bei den Behörden einen Lernprozess in Gang. Die im Zweiten
Weltkrieg ergriffenen Rationierungsmassnahmen, denen ein informatives
Kapitel gewidmet ist, berücksichtigten sowohl die mittlerweile
differenzierteren Vorgaben der Ernährungswissenschaft als auch Bedarfs- und
Einkommensunterschiede.
Fürsorge und Selfservice
Tanner behandelt jedoch nicht nur die breite und international vernetzte
Rezeption des Expertenwissens, sondern auch die Praxis der Arbeiter,
Unternehmer und Fürsorgerinnen. Während die Arbeiterbewegung eine bessere
Ernährung über Lohnerhöhungen zu erreichen suchte, nahmen die Arbeitgeber
lange einen paternalistischen Standpunkt ein. Exemplarisch werden die
Verpflegungseinrichtungen der Basler chemischen Industrie vorgestellt, von
den frühen Wohlfahrtshäusern bis zu den modernen Personalrestaurants. In
der noch in der Zwischenkriegszeit üblichen Segregation der Speiseräume für
Arbeiter, Angestellte und Direktionsmitglieder spiegelten sich
Betriebshierarchie und Klassenschranken. Das erklärt zum Teil die Abneigung
der Arbeitnehmer und Gewerkschaften gegen die als Almosen empfundenen
Kantinen. Wie die ausgewerteten Berichte der Fabrikinspektoren deutlich
machen, hielten die Arbeiter an ihren traditionellen Essgewohnheiten fest.
Sie zogen die von Tanner als «Endoküche» bezeichnete, zu Hause bereitete
und dort verzehrte oder an den Arbeitsplatz mitgebrachte Mahlzeit der
betriebsgebundenen «Exoküche» vor.
Dass sich die Gemeinschaftsverpflegung, deren Angebote sich mit der Zeit den
individuellen Bedürfnissen besser anpassten, verbreiten konnte, war nicht
zuletzt dem aus den alkoholfreien Soldatenstuben des Ersten Weltkriegs
hervorgegangenen Verband Volksdienst und seiner Leiterin Else Züblin-Spiller
zu verdanken. In den vom Volksdienst im Geiste der sozialen Mütterlichkeit
geführten Einrichtungen wurde der emotionalen Seite des Essens ebenso
Rechnung getragen wie den ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen und der
Rationalisierung der Arbeitsabläufe. Die aus den Vereinigten Staaten
übernommene Selbstbedienung erlaubte es, das Angebot auszuweiten und in
kürzerer Zeit mehr Gäste zu verpflegen. Die Zunahme der ausserhäuslich
eingenommenen Mahlzeiten hängt aber auch zusammen mit der Einführung von
neuen Arbeitszeitregelungen und der «Demokratisierung» der Ernährung,
einer bedarfsorientierten Verteilungsgerechtigkeit, die sich mit der
kriegsbedingten Rationierung durchsetzte.
Mit dem Übergang zur Konsumgesellschaft veränderten sich auch die
Essgewohnheiten grundlegend. In welchem Masse der Diskurs um die richtige
Ernährung in die jeweiligen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen eingebettet ist, macht der das Buch abschliessende
Ausblick auf die Nachkriegsjahrzehnte deutlich, in denen nicht mehr der
Mangel, sondern der Überfluss in den industrialisierten Ländern die
Wissenschaft zu beschäftigen begann. Die Überlegungen, die Tanner zu dieser
neuen Entwicklung anstellt, verweisen nochmals eindrücklich darauf, wie
durch Essen und Trinken nicht nur ein Grundbedürfnis befriedigt, sondern
zugleich auch soziale und kulturelle Identität hergestellt wird.
Beatrix Mesmer
Jakob Tanner: Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und
Volksernährung in der Schweiz 1890-1950. Chronos-Verlag, Zürich 1999.
599 S., Fr. 78.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 06.12.1999 Nr. 184 35