Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit
Ganz «normale» Bilder bedürfen keiner Begründung. Jeder sieht oder kennt sie, keiner regt sich auf oder wundert sich. Wenn alle meinen, das gleiche zu sehen und zu verstehen, dann scheint die «Wirklichkeit» abgebildet worden zu sein. Zumindest hat das Abgebildete ein Stück Glaubwürdigkeit gewonnen. Seine Repräsentation ist vertrauenswürdig und gewinnt mitunter sogar Beweiskraft.
Viele moderne Selbstverständlichkeiten sind über technisch erzeugte Bilder entstanden. Obwohl der Aufwand zur Herstellung immer genauerer und vielseitig verwendbarer Bilder im Verlaufe der letzten beiden Jahrhunderte beträchtlich gewachsen ist, bleibt der Glaube an visuelle Evidenzen ungebrochen. Sichtbarkeit ist in den Worten Hans Blumenbergs tatsächlich zur letzten Instanz von Wahrheit geworden.
Dabei ist das, was heute selbstverständlich ist, gestern nicht selten skandalös oder umstritten gewesen. Es stellt sich daher die Frage, wie Visualisierungen kulturell sanktionierte Evidenz erlangen. Wie können Bilder zum Abbild «objektiver» Realitäten werden? Und welche Rolle spielen hierbei die Instrumente und Verfahren der Bildherstellung? Exemplarisch beleuchten die in diesem Band versammelten Aufsätze die historische Kontingenz visuell erzeugter Selbstverständlichkeit, indem sie die Prozesse der technischen Herstellung von Karten, Plänen, Kurven, Fotografien, Magnetresonanzbildern und anderen Repräsentationsformen untersuchen.
Mit Beiträgen von Cornelius Borck, Angelus Eisinger, Christian Erb, Peter Geimer, Volker Hess, Sabine Höhler, Jens Lachmund, Jürgen Link, Daniel Speich, Jakob Tanner und anderen.
«Wahre» Bilder
rox. Dem gedruckten Buchstaben scheint man noch eher Misstrauen entgegenzubringen, es muss nicht alles «wahr» sein, was zu Papier kommt. Bei Bildern hingegen ist der Begründungsbedarf weitaus geringer. Das Abgebildete ist glaubwürdig, seine Repräsentation gewinnt - eben durch das Bild - sogar Beweiskraft. Ein vom Institut für Technikgeschichte der ETH Zürich angeregter Workshop hat sich der Frage gewidmet, ob und wie «visuelle Selbstverständlichkeit» generiert wird. Die daraus entstandene Publikation versammelt Beiträge aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, bei denen technisch-bildgebende Verfahren gleichsam unhinterfragt die Produktion von wissenschaftlichen Aussagen implizieren. Wo über Crash-Szenarien in globalen Finanzmärkten debattiert wird, wo ärztliche Diagnosen gestellt und Therapievorschläge entwickelt werden: Überall seien «an bedeutender Stelle Visualisierungstechniken als Armaturen individuellen und kollektiven Sehens im Einsatz», so David Gugerli und Barbara Orland in ihrer Einleitung. Der Band berichtet über die «Profilierung ozeanischer Tiefe im Lotverfahren» (Sabine Höhler) ebenso wie über die unterschiedlichen «Kartennaturen» der Grossstadt Berlin (Jens Lachmund). Auch gegenwärtige technische Verfahren, darunter die Magnetresonanztechnik, werden inspiziert.
Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit. Herausgegeben von David Gugerli und Barbara Orland. Chronos-Verlag, Zürich 2002. 277 S., Fr. 38.-.
Abgedruckt mit freundlichen Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Samstag, 25.01.2003 Nr.20 64
(c) 1993-2000 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 1
Die in dieser Reihe erscheinenden Studien untersuchen technische und wissenschaftliche Entwicklungen in der Neuzeit. Sie fragen nach dem historischen Entstehungskontext und gehen der Frage nach, inwiefern verschiedene soziale Gruppen diese technischen Entwicklungen als Möglichkeit sozialen Wandels wahrgenommen, ausgehandelt und bisweilen genutzt oder vergessen haben. Der Ansatz erlaubt es, Innovationen als technisch und gesellschaftlich voraussetzungsreiche Prozesse zu verstehen und zu erklären.
«Trotz der Vielfalt an Themen und Zugängen sind alle Beiträge deutlich am im Titel genannten Fokus orientiert – ein Kompliment an die Herausgeber. ... Der Band ist empfehlenswerte Lektüre für alle, die sich aus historischer Perspektive mit Bildern in Medizin, Wissenschaft und Technik beschäftigen. Die meisten Beiträge eignen sich hervorragend zu Lehrzwecken. ‹Ganz normale Bilder› ist ein Beispiel für die äusserst interessanten und hochwertigen rezenten deutschsprachigen Beiträge zur Untersuchung des für Medizin, Wissenschaft und Technik so zentralen Themas der Visualisierung, die im englischsprachigen Bereich bisher ohne vergleichbare Parallele geblieben sind.» Thomas Schlich, McGill University, Montreal