Sozialer Wandel als Lernprozess
Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Schweiz
In der jüngeren Schweizer Geschichte sind immer wieder Krisenphasen aufgetreten, die durch Orientierungslosigkeit, politische und soziale Konflikte und einen wirtschaftlichen Einbruch gekennzeichnet waren. Diese Krisen wurden bisher stets überwunden und machten einem neuen Wachstums- und Entwicklungsschub Platz.
Mit dieser Abfolge von Krisen und Wachstumsphasen beschäftigen sich die Beiträge der 24 junge HistorikerInnen, SoziologInnen und ÖkonomInnen. Gemeinsamer Bezugspunkt der Beiträge ist die vom Zürcher Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler entwickelte Theorie wirtschaftlicher Entwicklung und sozialen Wandels. Nach dieser führt wirtschaftliches Wachstum zu einer gesellschaftlichen Destabilisierung, und die damit verbundene entscheidungslähmende Unsicherheit löst schliesslich einen wirtschaftlichen Einbruch aus.
Da Krisen ihren Ursprung im Orientierungsverlust haben, lassen sie sich nur überwinden, wenn man das Vertrauen in die eigene Fähigkeit zurückgewinnt, die Welt angemessen beurteilen zu können. Dieses Vertrauen ist immer auf den Rückhalt bei anderen Menschen angewiesen. Die grundlegenden Schritte zur Krisenüberwindung erfolgen daher in Gesprächen, in denen sich die Individuen über die Welt und ihre zukünftige Entwicklung zu verständigen suchen. Haben sie so ihre Handlungsfähigkeit zurückgewonnen, stellt sich der Aufschwung quasi von selbst ein.
Wachstumskrise und soziales Lernen. Einleitung der HerausgeberInnen
Manuel Eisner: Wirtschaftliches Wachstum und abweichendes Verhalten
Patrick Halbeisen und Roman Lechner: Die Rolle des Staates in der Schweizer Wirtschaft von 1850-1913
Peter Püntener: Die Entwicklung des Tourismus im 19. Jahrhundert
Heiner Ritzmann: Der «homo migrans» und die Macht der Traditionen. Kontinuitäten und Brüche im Auswanderungsverhalten von Schweizern 1816-1939
Daniel Imfeld: Lohnstarrheit und Beschäftigung im 19. Jahrhundert
Kenneth Angst: Liberalkorporative Neuorientierung der schweizerischen Gewerbepolitik. Träger und Randbedingungen eines fundamentalen Lernprozesses 1938-1941
Martin Dahinden: Die schweizerische Buchhandelskultur und die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Anmerkungen zu einem Orientierungswandel
Oskar Scheiben: Instabilität, die Stabilität bewirkt. Gegenläufige Prozesse in Gesellschaft und Organisation am Beispiel der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz 1928-1936
Erich Wigger: Der politische Austausch im Ausgang der Krise nach dem Ersten Weltkrieg
Jürg Zbinden: Der Zürcher Literaturstreit 1967. Ästhetische Ideologien in der Diskussion
Jean Daniel Blanc: Vom Traum zum Alptraum. Anstösse und Ursachen konzeptioneller Umbrüche in der Verkehrspolitik Zürichs 1945-1975
Johanna Gisler, Mariana Christen: Die «Annabelle-Gemeinde». Vermittlung neuer Orientierungsmuster durch Kommunikation am Beispiel der Leserschaft einer schweizerischen Frauenzeitschrift
David Gugerli: Technikbewertung zwischen Öffentlichkeit und Expertengemeinschaft. Zur Rolle der Frankfurter elektrotechnischen Ausstellung von 1891 für die Elektrifizierung der Schweiz
Albert Pfiffner: Erfolgreiches Unternehmerverhalten als Folge persönlicher Lernprozesse: Henri Nestlé und Heinrich Spoerry
Andreas Ernst: Krise und Kontingenz. Deutschland und die Schweiz am Ende des Ersten Weltkriegs
Jakob Tanner: «Macht der Banken». Analytisches Konzept oder politischer Topos? Zum Bedeutungswandel einer kontroversen Kategorie in der Schweiz des 20. Jahrhunderts
Heinz Kleger: Legitimationskrise, Orientierungskrise, Stagnationskrise. Was heisst heute «Krise»?
Spyros Arvanitis: Entscheidungsfindung und Lernprozesse des individuellen Akteurs in der ökonomischen Theorie: Überblick und kritische Würdigung
Margrit Müller: Soziale Vernetzung und Entscheidungsfähigkeit. Kommunikationssysteme als Voraussetzungen und Begrenzungen wirtschaftlicher Entwicklung
Thomas Gerlach: Orientierungsvermittlung und Ressourcenmobilisierung. Zur Logik kollektiven Handelns von Interessenorganisationen und sozialen Bewegungen
Kurt Imhof: «Vermessene Öffentlichkeit»: Medienereignisse als Indikatoren sozialen Wandels
Gaetano Romano: Die Nationale Identität und die Fremden
ANDREAS ERNST ET AL. (HG.)
KONTINUITÄT UND KRISE
SOZIALER WANDEL ALS LERNPROZESS. BEITRÄGE ZUR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALGESCHICHTE DER SCHWEIZ. FESTSCHRIFT FÜR HANSJÖRG SIEGENTHALER
CHRONOS, ZÜRICH 1994, 460 S., FR. 68.-
Eine Art Anschaungsunterricht für die theoretische und forschungspraktische Arbeit des Geehrten liefert uns die Festschrift für Hansjörg Siegenthaler, indem die darin vereinigten Aufsätze dessen Theorie und Empirie zur (wirtschaftlichen und sozialen) Entwicklung der Schweiz in den letzten hundertfünfzig Jahren zur Basis haben. «Kontinuität» und «Krise» als Phänomene, verbunden durch mehr als zeitliche Abfolge, haben seit jeher in Hansjörg Siegenthalers Forschungstätigkeit als roter Faden gewirkt. Die zentrale Frage nach den Zusammenhängen zwischen Krise und Wachstum, nach Begründungen, die für den Umschlag von Kontinuität und Wachstum in Umbruch und Krise (und in erneutes Wachstum) angegeben werden können, ist dabei immer auf die Gegenwart bezogen gewesen. Die Theoriebildung, die der Wirtschaftshistoriker in diesem Zusammenhang vorangetrieben hat, zusammen mit der darauf basierenden Interpretation der schweizerischen Geschichte der letzten 150 Jahre, hat nun dazu geführt, das Erscheinen von Siegenthalers Werk Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmässigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens (Tübingen 1993) zu einem nachwirkenden Ereignis für die auf das eigene Land bezogene schweizerische Geschichtswissenschaft werden zu lassen (siehe auch Traverse 1994/3) -, und dies zu einem Zeitpunkt, in dem der Wille und die Notwendigkeit, den Mechanismus zu verstehen, der zur Krise und v. a. auch wieder hinaus führt, brennend sind.
Kontinuität und Krise spiegelt die kontinuierliche Arbeit hin auf eine konsistente Theorie und auf einen griffigen Interpretationsentwurf der schweizerischen Entwicklung. Siegenthaler arbeitet in der Auseinandersetzung mit Schülerinnen und Schülern. Ihre Arbeiten sind konzeptionell in sein grosses Projekt eingefügt. Waren es anfänglich v. a. die wirtschaftlichen Entwicklungsdaten, die - verstanden als Indikatoren - Wachstum und Krise der Gesellschaft anzeigen und belegen sollten, galt bald das Interesse auch Sozialdaten, bis schliesslich die Auseinandersetzung mit Zusammenhängen zwischen Kontinuität und Krisen die Arbeit dominiert hat. Die Arbeit an einem grossen Projekt spiegelt sich nun in der Festschrift, indem diese Beiträge vereinigt, die alle in ein Ganzes eingepasst und entlang der grossen Stränge der Theoriebildung angeordnet werden können.
Die Einleitung zum Band skizziert insbesondere den theoretischen Rahmen, in dem sich die folgenden Beiträge bewegen. Dabei machen die Autoren deutlich, wo ihrer Auffassung nach Siegenthalers Theoriebildung innerhalb der Modernisierungs- und Wachstumstheorien angesiedelt werden kann. Sie streichen das Gewicht hervor, das erkenntnistheoretischen Überlegungen zukommt, die in Stichworten angedeutet sein sollen: Wahrnehmung als Grundlage von Handeln, kognitive Regelsysteme, internalisierte und institutionalisierte Normen sowie Präferenzen, «fundamentales Lernen» (zugeordnet zu Krisenphasen) und «routinemässiges Lernen» (zugeordnet zu Stabilitätsphasen). Einige der Aufsätze der Festschrift gehen relativ souverän mit den Prämissen Siegenthaler'scher Konzeptionen um und diskutieren anschliessend diese Anwendung auch. Andere bekunden mehr Mühe, ist doch nicht jedes Datenmaterial so günstig und eignet sich nicht jede Problemstellung gleich gut, dass sie sich problemlos für die Exemplifizierung darbieten würden.
Im ersten Teil des Buches sind Aufsätze vereinigt, in denen langfristige Entwicklungen bzw. die Gewinnung von Daten zu deren Beschreibung thematisiert werden. Dabei holt jeder der Autoren eine theoretische Teilthematik des Forschungsunterfangens speziell hervor: Am Beispiel der Bundesfinanzen wird von Halbeisen und Lechner der Aushandlungsmechanismus, über den Bundessubventionen und ihre konkrete Verteilung bestimmt werden, als Ausdruck eines Willens zur Gemeinsamkeit und eines Lernprozesses dargestellt. Der Aufsatz von Püntener thematisiert eine Wirtschaftsbranche, die Fremdenindustrie, in ihrem Beitrag zum gesamtschweizerischen Wachstum und als Interessengruppe, und zeigt zugleich, welche methodischen und theoretischen Probleme bei der Auffindung und Aufbereitung von Grundlagendaten überwunden werden müssen. Der dritte Beitrag diskutiert die Beziehung zwischen ökonomischer Rationalität und der Wirksamkeit von dazu in Konflikt stehenden Entscheidungsmechanismen am Beispiel der Wanderungsströme aus der Schweiz nach Übersee (Ritzmann). Anhand der Auseinandersetzung um Lohnstarrheit und Beschäftigung diskutiert dann Imfeld die Bedeutung des Regelverhaltens für die Handlungsfähigkeit der Individuen in einer gegebenen wirtschaftlichen und sozialen Umgebung. Eisner diskutiert Probleme, die sich bei der Erfassung des Prozesses der Destabilisierung in Folge wirtschaftlichen Wachstums ergeben.
Im zweiten, umfangreichsten Teil des Buches thematisieren zwölf Aufsätze die Krise und daraus resultierende Neuorganisationen. Dabei befassen sich einige Beiträge mit Kommunikationsprozessen bzw. Diskursverdichtungen, die sich in einer solchen Phase ergeben, andere haben eine Aktorengruppe zum Thema, während ein weiterer, derjenige über die «Macht der Banken», die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem immer wiederkehrenden Element in Krisendiskursen selbst in die Analyse miteinbezieht, um Bezüge zwischen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen sichtbar zu machen und beide auf die Krise zu beziehen (Tanner).
Bei den Aufsätzen, die Aktorengruppen thematisieren, geht es meistens um die Frage nach fundamentalen Lernprozessen, die zu Kurswechseln führen. Pfiffner versucht die (Krisen-)Entscheide als Konsequenz unternehmerischen individuellen Lernens auf der Basis (auto-) bio-graphischer Materialien zu verstehen. Scheiben entwirft eine Erklärung für die sozialdemokratische Politik der 30er Jahre, nach der die Parteispitze die diagnostizierte Krise als Chance für das eigene Handeln begriffen hat, die Krisensituation bei den Parteiführern aber auch Ängste auslöste, so dass sie schliesslich doch zur Verständigung statt zur konfliktiven Durchsetzung eigener Interessen drängten. Dahinden interpretiert die Neuausrichtung des schweizerischen Buchhandels in den 30er Jahren als Folge eines Orientierungswandels infolge einer grundlegenden Verunsicherung, d. h. als einen grundlegenden Lernprozess. Angst thematisiert den Paradigmenwechsel im Schweizerischen Gewerbeverband Anfang der 40er Jahre, indem er die Bedeutung des gruppeninternen Vertrauens resp. Misstrauens in die politischen Zielsetzungen der Führungsgruppe für den Wechsel unterstreicht. Wigger rückt am Beispiel der Zürcher Bauernpolitik die kommunikativen Prozesse und Diskurselemente, die zur erfolgreichen gesellschaftlichen Positionierung führten, ins Zentrum.
Die Texte, welche Diskursverdichtungen thematisieren, stellen immer auch zur Diskussion, weshalb es gerade die ausgemachten Diskursthemen bzw. Begriffe waren, an denen sich gesellschaftliche Verständigung abhandelte und in welcher Weise und mit welchen Konsequenzen diese Kommunikation dann auch möglich war. Gugerli diskutiert am Beispiel der Frankfurter elektrotechnischen Ausstellung von 1891 die Bedeutung des Informationsprozesses, der sich als Kommunikationsvorgang zwischen technische Entwicklung und massenweise Anwendung von Elektrizität schob, für gesellschaftliche Innovationsentscheide. Blanc sieht die Verkehrsplanung im Zürich der Nachkriegszeit als Prozess kollektiven Umlernens. Gisler und Christen verweisen in ihrem Aufsatz zur Frauenzeitschrift «Annabelle» auf die Entwicklung eines Diskurskonstrukts, seine Normierungszwänge und das Bedürfnis verstärkter Kommunikation, das sich für angesprochene Frauen aus der Differenz zwischen Konstrukt und gelebtem Alltag ergab. Sie beschreiben damit das Abbild einer alltäglichen Krise in Zeiten stabiler Wachstumsphasen. Zbindens Aufsatz zum «neuen» Zürcher Literaturstreit (1966/67) erhellt die Debatte als heftiges Ringen um eine neue Ausrichtung (deutsch-)schweizerischer Autoren, um eine Neuorientierung schweizerischer Germanistik und um das Aufbrechen zementierter gesellschaftlicher Machtpositionen im Literaturbetrieb. Auch er stellt damit in den Raum, dass das Kulturleben seismographisch früh gesellschaftliche Krisen anzeigen kann. Ernst versucht in der Herausarbeitung von Übereinstimmungen und Unterschieden deutscher und schweizerischer (historischer) Selbstinterpretation in der Zeit der Krise nach dem Ersten Weltkrieg den Gehalt von «Nation» und damit den Handlungsspielraum in ihr zu bestimmen. Diesen Teil abschliessend diskutiert der Philosoph Kleger die Konsequenzen definitorischer Bemühungen um fundamentale Begriffe/Institutionen einer Gesellschaft für die Bewältigung der gegenwärtigen Krise, die in eine «Selbstfindung» der an der Kommunikation Beteiligten als Teil einer «neuen politischen Gesellschaft» münden soll.
Im dritten Teil der Festschrift sind Texte vereinigt, die Theorieprobleme thematisieren. So ordnet Arvanitis Siegenthalers Theoriekonstrukt ein in die laufende Theoriediskussion der Nationalökonomie. Gerlach diskutiert die Erklärungskraft des «selektiven Anreizes» für die Bereitschaft, sich in Kollektiven zu engagieren. Müller untersucht die Bedeutung von Lernprozessen in Unternehmungen für wirtschaftliche Entwicklung und Innovation, indem sie für die Unternehmung die Vorstellung der Organisation zugrunde legt. Imhof widmet seinen Aufsatz einer Kernvorstellung von Siegenthalers Theorie, derjenigen der fundamentalen Unsicherheit in Krisenphasen und der krisentypischen, nämlich verständigungsorientierten Kommunikation, die das erschütterte Vertrauen mit einer erneut gesellschaftlich gesicherten Interpretation der Welt auffangen wird. Imhofs Aufsatz wird durch den darauf folgenden von Romano ergänzt, der seinerseits die Sicherheit analysiert und ihre ideologische Konstruktion diskutiert, indem er ihre Funktion für die Handlungssicherheit von Aktoren in einer immer komplexeren Realität deutlich macht.
Der Band hinterlässt den Eindruck intensiver Denkarbeit und eines Entwurfes, der v. a. viele offene Fragen hat und deshalb zur Weiterarbeit einlädt. Es wird auch deutlich, dass Probleme, die bei Siegenthalers Buch aufgeworfen worden sind, sich bei den meisten dieser Aufsätze noch verschärfen. Erwähnt seien hier etwa das Problem der sauberen Trennung von fundamentalem und routinemässigem Lernen und deren Zuordnung zu Krisen- und Stabilitätsphasen oder die Frage nach den Asymmetrien in der Gesellschaft, die wenn nicht weggedacht so doch zumindest nicht mitkonzeptionalisiert werden. Dies stellt für die zentrale Frage, wie die Überwindung der Krise die fundamental erachteten Werte für die von ihr betroffenen Menschen einzulösen hätte, ein nicht unerhebliches Manko dar. Vorläufig?
Béatrice Ziegler (Hinterkappelen/Bern)
Traverse 1997/1 (169-172)