Korrekt und nützlich
Eine Jazzgeschichte der Schweiz
Dieses Buch war schon lange fällig: Wer durch die Bibliographie des neuen, über 450 Seiten dicken Buches «Jazz in der Schweiz» blättert, findet zwischen Biografien, regionalen Jazzgeschichten und Jubiläumsschriften kaum eine Gesamtschau. Und man muss schon tief in die siebziger Jahre zurückgehen, um auf jene nationalen Jazzgeschichten zu stossen, die von der Pro Helvetia herausgegeben wurden. Damals befand sich der Schweizer Jazz im Umbruch: Die Jazzschulen hatten ihren Lehrbetrieb aufgenommen, und aus einer lebhaften Amateurszene hatte sich eine breite Gilde von Berufsmusikern herausgebildet, deren bekannteste Namen seither weltweit ein Begriff sind.
«Jazz in der Schweiz», vom Musiker und langjährigen Jazz-Dozenten Bruno Spoerri als Resultat eines Forschungsauftrags der Luzerner Musikhochschule herausgegeben, beschreibt diese neueren Entwicklungen im Schweizer Jazz sozusagen von innen heraus: Nicht nur der Herausgeber, auch die meisten Autorinnen und Autoren des Buches haben die Jazzszene in den letzten Jahrzehnten als Musikerinnen und Journalisten begleitet. Eine Tatsache, der «Jazz in der Schweiz» mit dem Untertitel «Geschichte und Geschichten» offenbar Rechnung tragen will: Nicht nur soll das Buch mit einem ausführlichen historischen Teil den Anspruch eines Standardwerkes erfüllen; auch versucht es immer wieder, eine Art Oral History der Altvorderen zwischen seinen Deckeln einzufangen. Eine CD-ROM dient zudem als biografisches und diskographisches Lexikon, weist allerdings, wie Bruno Spoerri im Vorwort zugibt, auch Lücken auf. «Gelegentlich schien es», schreibt er, «als sei schon das Geburtsdatum oder der Geburtsort ein persönliches Geheimnis.» Der Chic des Nonkonformismus scheint offenbar auch in den kanonisierten Jazzkreisen bestens erhalten.
Die Geschichte des Jazz in diesem Land erzählt «Jazz in der Schweiz» zunächst in acht jeweils einer Ära, sodann in sieben je einer Region gewidmeten Kapiteln. Diese Texte sind wenn gelegentlich im Stil auch etwas spröd, so doch kompetent und umfassend, und sie ermöglichen lesenswerte Einblicke auch in Ecken des Schweizer Jazz, in die nur selten Licht fällt: So schreibt Andreas Knecht über helvetische Pioniere der elektronischen Musik, Werner Fischer-Tian führt die Glarner Jazzrebellen der fünfziger Jahre vor, und Bruno Spoerri erzählt, wie der Jazz vor dem Zweiten Weltkrieg in den noblen Hotels von St. Moritz oder Montreux Fuss fasste - den englischen und amerikanischen Touristen zum Dank. Im dritten Teil, der im Mantel einer Forschungsarbeit den Jazz etwas freier und süffiger angehen wollte, schwächelt das Buch. Die Themenwahl dieser Essays wirkt nicht sehr inspiriert, und so eintönig wie die Textform ist auch die Manier, die ausufernden Themen («Frauen im Jazz», «Jazz im Radio») in einer auf Vollständigkeit bedachten Vogelschau zu behandeln. Lieber hätte man sich an dieser Stelle des Buches einen feissen Happen erzählter Geschichte gewünscht - fokussiert auf abwegige Schauplätze oder unerhörte Biografien, auf vergessene Schallplatten oder unvergessliche Soli. - So ist «Jazz in der Schweiz» zwar korrekt und nützlich. Aber nicht gerade free.
Christoph Fellmann
Bruno Spoerri (Hrsg.): Jazz in der Schweiz. Geschichte und Geschichten. Chronos-Verlag, Zürich 2005. 459 S., Fr. 58.-.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Donnerstag, 08.12.2005 Nr.287 42
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der NZZ
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