Kontinuität und Wandel der stationären Erziehung im 20. Jahrhundert am Beispiel des Landerziehungsheims Albisbrunn
Erziehung und Gewalt, Fürsorge und Zwang – stationäre Erziehung war und ist anfällig für Grenzüberschreitungen in der Auseinandersetzung mit den ihr anvertrauten Kindern und Jugendlichen. Diese Spannungen zwischen Zuwendung und den Grenzen des eigenen Handelns lassen sich vielfach beobachten: zwischen pädagogischen Programmen, medialer Berichterstattung, alltäglichen Problemen, gesetzlichen Vorgaben und disziplinarischen Logiken.
Der vorliegende Band legt die Befunde des Teilprojekts «‹Grammatik› der stationären Erziehung» des NFP 76 vor. Neben der Präsentation der Institutionengeschichte des Landerziehungsheims Albisbrunn untersucht er Konzepte von Jugend in anderen Reformschulen. Diskutiert werden zudem die Fremdplatzierungspraktiken bei jugendstrafrechtlich eingewiesenen Knaben, die Dynamik und Wirkung der psychopathologischen Expertise im Heim sowie der Professionalisierungsprozess des Heimerzieher:innenberufs. Die Analysen zeigen, dass der Fall Albisbrunn auch auf andernorts zu beobachtende Problemfelder verweist: Finanzierung, Erziehungspraktiken, Kampf gegen Drogen, Bedeutung von Gutachten, Diagnosen und Gesetzen, Fremdplatzierungspraktiken, Umgang mit Entweichungen oder Kooperation mit Behörden. Die Beiträge beleuchten die personellen, institutionellen und gesetzlichen Verflechtungen sowie das in Netzwerken zirkulierende Wissen zur stationären Erziehung. Das Heim in Hausen am Albis war mit seinen Bemühungen und Praktiken kein Einzelfall.
«Die vorliegende Darstellung des Landerziehungsheims Albisbrunn rückt aber auch die Kontinuitäten und Parallelen der stationären Zwangserziehung quer durch alle Institutionen des Anstalts- und Heimwesens ins Bild, vom Verdingkinderwesen über die Waisenhäuser und die Zwangsarbeitsanstalten für administrativ versorgte «schwererziehbare» Jugendliche hin zu den gehobenen Landerziehungsheimen und den Luxusinternaten für rebellische Sprösslinge von Oberschichtseltern. Dies vor dem Hintergrund der staatlichen Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen insbesondere auch gegenüber Jugendlichen in der Schweiz und ihren Nachbarländern in den vergangenen beiden Jahrzehnten sowie der immer noch wachsenden Anzahl von grossenteils sehr erschütternden Lebensberichten von Opfern.»