Zürich, 13. und 14. Juni 2003, auf dem Höhepunkt des spatial turn, veranstaltete die Interdisziplinäre Projektgruppe Mediävistik und Frühe Neuzeit der Universitäten Zürich und Bern eine Tagung zur Aneignung, Schaffung und Wiedergabe von Räumen in Mittelalter und Früher Neuzeit. Der vorliegende Band präsentiert die zehn Beiträge, die Raum als Analysekategorie verwenden oder als Untersuchungsgegenstand behandeln.
Barbara und Regula Schmid nehmen in ihrer Einleitung die herkulische Aufgabe in Angriff, nicht nur die höchst divergenten Ansätze des Bands in Kontext zu setzen, sondern die Vorträge in der Überfülle der zwischen Tagung und Drucklegung neu entstandenen Untersuchungen zum Modethema zu verorten und generell «Ordnung in die verwirrende Vielfalt der Räume» (10) zu bringen. Raum ist Resultat von Handlung, leitet sich von Grenzziehungen ab, ist Ordnungsstruktur und dehnt sich immer mehr in die Virtualität aus. Dabei agieren die Verfasserinnen teils zu bang, verwickeln sich in Hydrenkämpfe, wo es um die Ausmistung von Ställen gehen sollte. Exemplarisch ist ihre Untersuchung der Forschungsgeschichte, sie bleiben dabei nicht in der Gegenwart stehen, prophezeien einen temporal turn, wonach die «klassische Einheit von ‹Zeit, Ort und Handlung› […] erneut im Zentrum wissenschaftlicher Analysen aller kulturwissenschaftlichen Disziplinen stehen» (15) wird, gleichsam als poststrukturalistisch zur Anthropologie geläuterte Hermeneutik, «als Kategorien relationeller Analysen zur Erforschung menschlichen Handelns und Verhaltens». (15)
Nicht allen Schreibenden scheint die von den Herausgeberinnen präzisierte Unterscheidung von Raum als Analysekategorie oder als Untersuchungsgegenstand klar zu sein. Nur so lässt sich die Klage darüber erklären, dass man bis anhin Kartografie und Reiseberichte in der Raumforschung präferiert habe; diese Quellen eignen sich wie keine anderen um herauszuarbeiten, was in Mittelalter und Früher Neuzeit unter Raum verstanden wurde und wie sich diese Vorstellungen gewandelt haben. Vorbildlich zeigt das Michael Stolz an Überlegungen zur spätmittelalterlichen Pilgerfahrt nach Santiago, indem er nachzeichnet, wie imaginäre Raumvorstellungen physisch existente Räume überformten. Stolz entwickelt, von Stephen Greenblatt inspiriert, ein elegantes Raumkonzept (metonymische und metaphorische Räume), welches hoffentlich seinen Widerhall finden wird.
Operiert Stolz mit verschiedenen Quellengattungen, so konzentriert sich Cornelia Logemann auf eine Quelle. Sie streicht heraus, dass die Illustrationen der Grandes Chroniques de France des 14. Jahrhunderts nicht wegen ihrer mangelnden Perspektive gering geschätzt werden dürfen, wie es bis anhin in der Kunstgeschichte geschehen ist. Die Bilder, welche den Besuch Kaiser Karl IV. bei König Karl IV. 1378 illustrieren, seien nicht künstlerisch inferior, sondern reflektierten höfisches Raumverhalten. Logemann richtet ihren Blick darauf, dass Räume durch die Beziehung der darin agierenden Subjekte entstehen. «Formelhafte Miniaturen, so liesse sich resümieren, bilden ein Äquivalent zu formelhaftem Verhalten.» (56)
Ursula Kundert hat sich in «Topische Dynamik» mit der Enzyklopädie Polyanthea (1503) einen besonders diffizilen Untersuchungsgegenstand ausgesucht, den sie fruchtbringend als moraltheologisch gerichteten Assoziationsraum zu lesen weiss. Die Enzyklopädie strukturiert im Medium des Textes Wissen durch räumlich arrangierte Anordnung von Inhalten, gleichzeitig definiert sie Räumliches. Das Lemma spatium kommt nicht vor, Perspektivisches wird über corpus verhandelt. Aufhorchen lässt, dass Kundert das Raumkonzept des Verfassers der Polyanthea auf dasjenige des Aquinaten zurückführt. Raum wird «nicht wie heute von der Leere, sondern von den Dingen gedacht. Raum ist deshalb vor allem Ausdehnung von Körpern und Zwischenraum zwischen Körpern.» (168–169) Es bleibt zu hoffen, dass dieses alteritäre Raumkonzept auch künftig bei der Untersuchung von Raum miteinbezogen wird.
Die Freude an den vielen gewinnbringenden Beiträgen des Bands wird etwas dadurch getrübt, dass das im Vorwort geforderte «interdisziplinäre[] Gespräch über Anwendbarkeit, Reichweite und Bedeutung von Raumkonzepten in Mittelalter und früher Neuzeit» (7) zwar im Tagungsganzen stattgefunden haben mag, die Beiträge jedoch autistisch daherkommen, höchst unterschiedliche Terminologie verwenden. Es hätte sich gerade in diesem Fall angeboten, die den Vorträgen folgenden Diskussionen mit abzudrucken.
Die konzise Einleitung, vor allem aber Ursula Kunderts Schlussbetrachtungen lassen diesen kleinen Einwand schnell vergessen. Kundert denkt auf knapp zwei Seiten über die «Bedeutung des Raumes» und das Verhältnis der Zürcher Tagung zur «semiotischen Fragestellung» (225) nach. Sie analysiert Problemfelder und generiert dabei zwischen den Zeilen ein eigentliches Manifest, dem künftig in mediävistischer und frühneuzeitlicher Raum-Forschung gebührender Platz einzuräumen ist.
Nanina Egli (Zürich) in Traverse 2010/2