Fast 600 Kinder wurden zwischen 1926 und 1973 von der Stiftung Pro Juventute mit Hilfe der Behörden ihren Eltern weggenommen und in Pflegefamilien, Erziehungsheimen, Arbeitsanstalten, psychiatrischen Kliniken und Gefängnissen untergebracht. Die umfangreiche Studie legt dar, welche Familien vom «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» betroffen waren und wie die Kindswegnahmen begründet wurden.
Ziel der Pro Juventute war es, sogenannte Vagantenfamilien systematisch aufzulösen. Solche massiven Eingriffe in die Grundrechte setzen das Einverständnis der Behörden voraus. Wie sie das Recht auslegten und anwendeten, ist ein zentrales Thema dieser Arbeit. Die Autorin legt zudem dar, warum Beschwerden und Rekursen gegen die vormundschaftlichen Massnahmen kaum Erfolg beschieden war.
Die Arbeit zeigt aber auch die Grenzen der Aktion «Kinder der Landstrasse» auf. Die Pro Juventute verfehlte ihr Ziel, die Familien aufzulösen, nämlich weit häufiger als beabsichtigt. Grundlegende Kritik an der Aktion übte bis Anfang der 1970er-Jahre indes kaum jemand, nicht einmal das Bundesgericht. Das diskriminierende Vorgehen der Pro Juventute wurde von den Behörden und von psychiatrischen Experten unterstützt sowie von Fachleuten und Medien gelobt.
Die Autorin untersucht das Wirken der Pro Juventute im zeitgenössischen Kontext. Sie zeigt auf, warum die Umerziehungsmassnahmen trotz des sich früh abzeichnenden Scheiterns so lange aufrechterhalten werden konnten, und sie ermöglicht neue Einblicke in Netzwerke, Diskurse und Praktiken der schweizerischen Jugendfürsorge im 20. Jahrhundert.
1. Einleitung 1.1 Thema und Fragestellung
1.2 Die öffentliche Debatte seit den 1970er-Jahren
- Mediale Skandalisierung
- Schwierigkeiten der politischen Aufarbeitung
- «Wiedergutmachung» ohne historische Aufarbeitung
1.3 Forschungsstand
- Die Verfolgung der Fahrenden und der Nationalsozialismus
- Das «Hilfswerk» im Kontext der Fürsorge
- Historische Studie im Auftrag des Bundes
- Lancierung eines Nationalen Forschungsprogramms
1.4 Theoretisch-methodische Grundlagen
- Die «Grenzen der Sozialdisziplinierung»
- Die wissenschaftliche Debatte zur historischen Aufarbeitung
- Forschungsansatz und Erkenntnisinteresse
1.5 Quellen und Datenschutz
1.6 Begrifflichkeit
- Selbst- und Fremddefinitionen
- Polyseme Quellenbegriffe
- Wissenschaftliche Terminologie
1.7 Die Stiftung Pro Juventute und die Jugendfürsorge
1.8 Aufbau der Arbeit
2. Institutionelle Rahmenbedingungen 2.1 Die Gründung des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse»
- Ein Brief aus dem Bundeshaus
- Die Tessiner «Mission» der Pro Juventute
- Alfred Siegfried wird Vormund
- Die Tessiner Kindswegnahmen als Präzedenzfall
- Im Auftrag des Bundesrats – ein Gründungsmythos
- Aufnahme und Bekanntmachung der neuen Stiftungstätigkeit
- Die «Vagantenfürsorge» im Kanton Graubünden als Vorbild
- Erfolgreiche Propaganda
2.2 Organisation, Aufgaben und Verantwortlichkeiten der Pro Juventute
- Stiftungsrat und Stiftungskommission
- Das Zentralsekretariat und die Bezirke
- Die Abteilung «Schulkind» und die Aktion «Kinder der Landstrasse»
- Das «Hilfswerk» in der Stiftungskommission
- Das «Hilfswerk» im Stiftungsrat
- Einzelfürsorge in der Abteilung «Schulkind»
- Das «Hilfswerk» und der Bund
- Die Auflösung des «Hilfswerks» durch die Stiftungskommission
- Ressourcenverteilung und Machtverhältnisse
2.3 Alfred Siegfried
- Herkunft und Ausbildung
- Strafverfahren in Basel
- Die Folgen der Verurteilung
- Aufgaben und Mandate bei der Pro Juventute
- Ein «Fürsorger innerer Berufung»
2.4 Mitarbeiterinnen und Nachfolger von Alfred Siegfried
- Mitarbeiterinnen des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse»
- Peter Doebeli als Leiter der Abteilung «Schulkind» (1957–1961)
- Clara Reust als Vormundin der «Kinder der Landstrasse» (1959–1975)
- Willy Canziani als Leiter der Abteilung «Schulkind» (1962–1969, 1972–1995)
3. Normative Grundlagen, wissenschaftliche Aussagen und politische Strategien 3.1 Kinder- und Jugendfürsorge im 20. Jahrhundert in der Schweiz
- Die Kindesschutzartikel im Schweizerischen Zivilgesetzbuch
- Die Implikationen der Gesetzesgrundlage für die Kinder- und Jugendfürsorge
- Die Jugend im Fokus von Fürsorge und Wissenschaft
- Pflegekinder- und Anstaltswesen
- Private und öffentliche Jugendfürsorge
- Eingriff in die Familie statt Versicherung von sozialen Risiken
3.2 Die «Vaganten» im Kontext der «Heimatlosenfrage» um 1850
- Das Bürgerrecht und die kommunale Armenfürsorge
- Das Heimatlosengesetz von 1850
- Die amtliche Erfassung der «Heimatlosen» und «Vaganten»
- Die «Zwangseinbürgerung» in der Sozialpolitik des 20. Jahrhunderts
3.3 Die «Vaganten» und die «Soziale Frage» nach 1850
- Problematische Integration der «Vaganten» in den Gemeinden
- Auswirkungen der Integrationsbemühungen
- Die private Wohltätigkeit und die «Vaganten»
- Die Bekämpfung des «Vagantenübels» zur Zeit der grossen Depression
- Etablierung einer nationalen «Zigeunerpolitik» um 1900
- Die nationale «Zigeunerpolitik» während und nach dem Zweiten Weltkrieg
- Die «Vaganten» in der kantonalen Sozialpolitik des 20. Jahrhunderts
3.4 Die Entdeckung der «Vaganten» durch die Wissenschaft in der Schweiz
- Die medizinische Erforschung der «Vagantenkrankheit»
- Die «Psychiatrischen Familiengeschichten» von Johann Joseph Jörger
- Erbbiologische Forschung und Eugenik
- Der pathologische «Wandertrieb»
- Die «Gäste der Herberge zur Heimat»
- Die «Motive und Formen jugendlicher Vagabondage»
- Juristische Folgerungen aus den psychiatrischen «Tatsachen»
- Die Forschungssituation in der Schweiz im Vergleich zu Deutschland
3.5 Die Institutionalisierung der «Vagantenfürsorge» in Graubünden
- Das Fürsorgegesetz von 1920
- Der «Vagantenkredit» von 1924
- Die «Vagantenfrage» aus der Sicht des Psychiaters Johann Joseph Jörger
- Die Pro Juventute und die Bündner «Vagantenfürsorge»
- Die Rolle der Psychiatrie für die «Vagantenfürsorge»
- Das Ende der «Vagantenfürsorge» in Graubünden
4. Die «Kinder der Landstrasse» in Werbeschriften, Diplomarbeiten und in der Schweizer Presse 4.1 Die Werbemittel des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse»
- Vorträge, Konferenzen und Interviews
- Die Werbeschriften
4.2 Die Propaganda der Pro Juventute in Wort und Bild
- «Vagantität und Jugendfürsorge» – programmatische Erläuterungen
- «Fahrendes Volk» – die fremden Armen
- «Vagantenleben» – Stereotypisierung des Alltags fahrender Familien
- Visualisierung des «Vagantenelends»
- Die Konstruktion der «Schmarotzer»
- Von den Pflichten und Rechten der Gesellschaft
- Staatliche Kontrolle und Erziehung
- Die «gefährliche Macht» der «asozialen Sippe»
- Revitalisierung der Kampfrhetorik
- Fallgeschichten als «Müsterchen» aus dem Alltag
- Das «Grundproblem der Heilerziehung» – Vererbung und Eugenik
- Die Bilanz einer Erfolgsstatistik
- Schlussfolgerungen
4.3 Die Forschungsrezeption in der Propaganda der Pro Juventute
- Die Schriften des Psychiaters und Kriminalbiologen Robert Ritter
- Der Austausch mit dem Medizinalrat und Zigeunerforscher Hermann Arnold
- Die Dissertation des Psychologen Walter Haesler
4.4 Die Förderung der «Vagantenforschung» durch die Pro Juventute
- Die Diplomarbeiten der sozialen Frauenschulen
- Die Arbeiten der Pro-Juventute-Praktikantinnen
- Schlussfolgerungen zum fürsorgerischen Umgang mit Fahrenden
- Forschungsarbeiten der akademischen Wissenschaft
4.5 Die «Schweizer Zigeuner» und das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» in Zeitungen, Wochen- und Fachzeitschriften
- Die «schweizerischen Zigeuner» in der Schweizer Presse
- Bekämpfung und Bestätigung von Vorurteilen ab den 1960er-Jahren
- Romantik und soziales Elend in den Bildberichten
- Presseberichterstattung über die Aktion «Kinder der Landstrasse»
- Rezensionen zu Alfred Siegfrieds Buch
- Fragen werden aufgeworfen und erste Kritik wird laut
- Der schwierige Versuch einer Annäherung an die Jenischen
- Schlussfolgerungen
5. Die Kindswegnahmen 5.1 Datenerfassung und Verwaltung
- Die Instrumente der Erfassung und Verwaltung
- Aktenführung, Akteneinsicht, Aktenlauf
- Gesetzliche Regelungen
- Die Erfassung der Kinder und ihrer Familien
5.2 Die Umfrage der Pro Juventute in Gemeinden und die Erhebungen der Polizei
- Die Umfrage der Pro Juventute in den Gemeinden
- Konzeption, Auswertung und Instrumentalisierung der Fragebogen
- Die unterschiedlichen Kriterien zur Definition der «Vaganten»
- Die Klagen und Problemlösungsstrategien der Gemeinden
- Ansichten des Armenvorstehers der Gemeinde Obervaz
- Einschätzungen des Gemeindevorstands von Untervaz
- Erhebungen der Aargauer Polizei
- Erhebungen der Kantonspolizei Zürich
- Die Relevanz der in den Gemeinden und von der Polizei erhobenen Daten
5.3 Die Familien im Fokus der Fürsorge
- Suche nach Familien
- Hinweise auf Familien
- Angaben über Familien
5.4 Untersuchung der Familienverhältnisse und Sicherung von Beweismaterial
- Die Informanten der Pro Juventute
- Die Berichte der Vertrauens- und Gewährspersonen
- Möglichkeiten und Grenzen der privaten Stiftung
5.5 Die Anträge an die Behörden
- Ein «administrativer Entscheid» als Rechtsgrundlage
- Der Entzug der elterlichen Gewalt als Ziel
- Von der Rechtsbelehrung bis zum vorgefertigten Entscheid
5.6 Die behördlichen Kindesschutzmassnahmen
- Die Übertragung bestehender Vormundschaften an Alfred Siegfried
- Die Ernennung Alfred Siegfrieds zum Vormund
- Die Interpretation der gesetzlichen Ermessensspielräume
- Die behördliche Praxis in den Kantonen, in Stadt und Land
- Die Errichtung von Beistandschaften und ihre Umwandlung in Vormundschaften
- Die Einflussnahme der Pro Juventute: ein Fallbeispiel
- Die Kindesschutzmassnahmen in der fürsorgerischen Praxis
- Schlussfolgerungen
5.7 Vollzug der behördlichen Entscheide
- Wegnahme der Kinder aus ihren Familien
- Zeitpunkt, Ort und Dauer der Fremdplatzierung
- Heime und Anstalten
- Pflegefamilien
6. Die Grenzen der Aktion «Kinder der Landstrasse» 6.1 Der Handlungsspielraum von Eltern, Vormunden und Behörden
- Behördlich angeordnete Massnahmen für die Eltern
- Marginalisierte Interessen der Eltern und Kinder
- Degradierung der Eltern zu Kostgeldzahlern
- Folgenreiche Beschwerden der Eltern gegen den Vormund
- Erfolglose Kritik der Eltern an der Platzierung ihrer Kinder
- Vergebliche Dokumentation der Eltern mit schriftlichen Zeugnissen
- Willfährige Unterstützung der Pro Juventute durch die Behörden
- Mangelnde Solidarität mit armen Familien
- Erfolgloser Einbezug der Presse durch die Eltern
- Schlussfolgerungen
6.2 Die Rechtsmittel der Eltern
- Die «Affäre Dr. Winterberger»
- Anzahl und Sachverhalt der ergriffenen Rechtsmittel
- Instanzen der Rechtsmittelverfahren
- Merkmale der kantonalen Rechtsmittelverfahren
- Rechtsprechung des Bundesgerichts
- Formelle Beanstandungen und Verfahrensfehler
- Schlussfolgerungen
6.3 Die Reichweite der «planmässigen Vagantenfürsorge»
- Romandie und Wallis
- Nordwestschweiz
- Innerschweiz
- Tessin
- Nordostschweiz und Graubünden
- Schlussfolgerungen
7. Die Rolle der Psychiatrie in der Fürsorgepraxis 7.1 Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken
- Untersuchte Krankenakten
- Merkmale der Krankenakten
- Zeitpunkt, Anzahl und Dauer der Einweisungen
- Einweisende Instanzen
7.2 Untersuchungsmethoden und Gutachten
- Einheitliche Diagnosen
- Imaginierte Krankheitsursachen
- Zweifelhafte Prognosen
- Ermessensspielräume in forensischen Gutachten
7.3 Behandlungsmethoden und Empfehlungen
- Massnahmen gegen «abnormes» Sexualverhalten
- Klinische Behandlungsmethoden und ‑erfolge
- Kritik an psychiatrischen Gutachten
- Platzierung der Mündel aufgrund der Gutachten
7.4 Die Situation der Mündel
- Das «soziale Versagen» der Mündel
- Einweisung zur weiteren Bevormundung
- Von den Anstalten in die Kliniken
- Familienkontakte als Einweisungsgrund
- Suizidale Gefährdung der Mündel
- Die Klinikaufenthalte aus der Sicht der Mündel
7.5 Kritik an den psychiatrischen Deutungsmustern
- Kennzeichen erbbiologischer Forschung
- Die Legitimation vormundschaftlicher Massnahmen
- Die Einführung internationaler Klassifikationssysteme
- Merkmale und Folgen angewandter Deutungsmuster
- Die psychiatrische Klinik als Disziplinierungsanstalt
- Unheilvolle Allianz von Psychiatrie und Pädagogik
8. Schlusswort Gründe für die rasche Etablierung des «Hilfswerks»
Alfred Siegfried – ein verurteilter Sexualstraftäter als Berufsvormund
Gründe für das lange Fortbestehen des «Hilfswerks»
Rechtsgrundlagen und gesellschaftliche Funktion des Kindesschutzes
Die «Vaganten» in Politik und Wissenschaft
Die Propaganda der Pro Juventute und die Berichterstattung der Medien
Die Kindswegnahmen im Rahmen des «Hilfswerks»
Vernachlässigte Interessen und mangelhafter Rechtsschutz
Die Rolle der Psychiatrie im Rahmen des «Hilfswerks»
Ein Fall von Völkermord in der Schweiz?
Umgang mit vergangenem Unrecht
Anhang
Sara Galle legt das massgebende Werk nicht nur zum ‹Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse›, sondern zur schweizerischen Jugendfürsorge insgesamt vor. [...] Die Autorin verliert nie die nötige wissenschaftliche Distanz. Sie bringt ihre Empathie mit den Opfern ohne wohlfeile Bekundungen von Betroffenheit zum Ausdruck. Ihr probates Mittel im Umgang mit den erschreckenden Geschehnissen ist feine Ironie.
«Es sind diese gesellschaftsanalytischen Bezüge mit den Netzwerken, Diskursen und Praktiken, die die Studie von Sara Galle besonders auszeichnen. Damit setzt sie wichtige Leitplanken für die Forschung zu weiteren betroffenen Gruppen administrativ Versorgter, die mit ‹Fürsorge und Zwang› konfrontiert waren.»
«Über das ‹Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse› der Pro Juventute wurde viel geforscht und viel publiziert. Keines dieser Bücher ist aber so umfassend und so aufschlussreich wie die neue Studie der Historikerin Sara Galle.»
«Sara Galles Kindswegnahmen im nun ein Meilenstein im Umgang mit diesem belastenden Kapitel der Schweizer Geschichte. Die sehr umfangreiche Monografie, die Dissertationsschrift der Autorin, ist das Resultat einer Aktualisierung und Verlagerung der Kritik an der Arbeit des „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“: Zwar wurde die Organisation nach der Skandalisierung durch die Presse in den 1970ern ab den 1980ern auch im universitären Umfeld erforscht, doch nimmt Sara Galle mit ihrer Studie nun eine neue, gewinnbringende Perspektive mit Schwerpunkten in der Wissenschaftsgeschichte und der Geschichte des Schweizer Sozialstaates ein. [...] Die vorliegende Studie zeichnet sich besonders dadurch aus, dass sie Macht und Wirkung von Akten, Administrationsprozessen, Wissenszirkulation, wissenschaftlichen Deutungsmustern und die Aushandlung von Zuständigkeiten ins Zentrum stellt. Gleichzeitig bleiben stets sowohl die AkteurInnen des „Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse“, ihre Verbündeten und Gegenspieler als auch die betroffenen Kinder und ihre Familien präsent. [...] Eine weitere Stärke der Studie ist die zurückhaltende Bewertung des Beschriebenen, gerade vor dem Hintergrund der zum Zeitpunkt der Publikation aktuellen politischen Diskussion um eine finanzielle Wiedergutmachung von Seiten des Schweizerischen Bundesstaates an die Betroffenen.»