Die Geschichte der Verwaltung ist – trotz oder gerade wegen der politischen Eigenart der Schweiz – und im Unterschied zu ihren Nachbarländern einer der blinden Flecke helvetischer Historiografie. Im Zuge des kultur- und medienwissenschaftlichen risorgimento der Verwaltungsgeschichte könnte sich dies nun ändern. Für die Vormoderne sind erste mitunter brillante Arbeiten auf dem (verwandten) Gebiet (der Rechtsgeschichte) erschienen. Nun hat nach dem Kanton Waadt auch der Kanton Zürich eine Geschichte seiner modernen Verwaltung vorgelegt. Im Auftrag des Zürcher Staatsarchivs hat der freie Historiker Martin Illi von 2003 bis 2007 als Staatsangestellter und «teilnehmender Beobachter» (9) eine Verwaltungsgeschichte des Kantons Zürichs verfasst. Das Buch überzeugt zunächst durch seine schiere Materialität: Mit 508 Seiten, (Aus-)Massen von 29,8 × 21,6 × 4,5 Zentimetern und einem Gewicht von 2,2 Kilogramm ähnelt der Band einem jener Folianten, in welche historische Staatsschreiber jene Beschlüsse des Kleinen und später des Regierungsrats protokolliert haben, die das archivalische Schwergewicht von Illis historischem Datenmaterial ausmachen.
Illi zerlegt die Geschichte der Zürcher Kantonsverwaltung in vier chronologische Teile, die jeweils durch einen sozialgeschichtlichen Überblick eröffnet, eine verwaltungsgeschichtliche Zusammenfassung auf den Punkt gebracht und zwei Essays von staatsbekannten Zürcher Persönlichkeiten wie zum Beispiel Alfred Gilgen, Esther Girsberger oder Walter Muschg abgerundet werden. Der Fokus der Monografie, die gemäss Auftrag sowohl «dem heutigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis entsprechen» wie auch «ein interessiertes Laienpublikum ansprechen» soll, (9) rückt dabei vor allem die Organisationsgeschichte der Verwaltung ins Zentrum mit einem Seitenblick auf den Strukturwandel der Staatsfinanzen. Der erste Teil entfaltet die politisch bewegte Zeit bis 1850. Zürich entwickelt sich in der Helvetik vom Stadtstaat zum modernen Kanton mit Hauptstadt, der aber von 1803 an nicht mehr zentral und direktoral, sondern wieder nach dem Kollegialprinzip des Ancien Régime verwaltet wird. Das heisst Kommissionen und Räte – zusammengesetzt aus den patrizischen Klein- respektive Regierungsräten, Sekretären und technischen Experten und folglich ohne wirkliche Gewaltentrennung – und nicht einzelne Behörden, Direktorien oder Personen, beraten und entscheiden gemeinsam, was im Sinne der guten Policey Staatsgeschäft ist. Diese Verwaltung wirtschaftet kameralistisch. Der Staatshaushalt wird vorwiegend mit Erträgen aus dem Staatsvermögen und hoheitlichen Rechten und Regalen bestritten.
Im zweiten Teil (1850–1914) beschreibt Illi den fundamentalen und in seinen Grundsätzen bis heute gültigen Umbau der Zürcher Verwaltung in eine Bürokratie. Schöne Ironie dieser Geschichte ist, dass ausgerechnet die wirtschaftsliberale Führungsriege um den späteren Eisenbahnkönig Alfred Escher mit dem Organisationsgesetz von 1850 und der Einführung der Departementalverwaltung die Bürokratisierung aufgegleist hat – entgegen der Sorge der konservativen Seite, die eine Expertenherrschaft fürchtete. Damit einher geht die Umstellung auf den Steuerstaat auch in finanzieller Hinsicht. Der Staatshaushalt wird nun nicht mehr über Regale und Vermögen, sondern mit direkten (Vermögens- und Einkommens-)Steuern finanziert, sodass zusammen mit den Staatsaufgaben auch die Staatseinnahmen ansteigen: von 3 auf knapp 30 Millionen Franken. Die dritte Phase 1914–1950 zeichnet sich im Zusammenhang der beiden Weltkriege durch Rationalisierungsbestrebungen in der Verwaltung aus. Mittels moderner Managementmethoden und Büromaschinen (wie Adressier-, Buchhaltungs-, Rechen- und Schreibmaschinen, Vervielfältigungsapparate, Telefon und Lochkartenanlagen) werden Verwaltungen auf Wirtschaftlichkeit, das heisst Berechenbarkeit, Effizienz und Sparsamkeit, getrimmt. Im Zuge dieser Mechanisierung, genauer Maschinisierung der Verwaltung stellt der Kanton auch vermehrt (bis 1963 allerdings lieber unverheiratete) Frauen ein. Sekretäre und Beamte hingegen sind nicht mehr nur Verwaltungsexperten, sondern werden auch für den Gesetzgebungsprozess der Legislative massgebend (Exekutivstaat). Die Staatsausgaben verzehnfachen sich 1910–1949 nominal noch einmal auf 253 Millionen Franken (entspricht real dem Faktor 2,2) und werden in dieser Rangfolge vor allem für Bildung und Gesundheit, sowie Verkehr (Strassenbau) und Sozialpolitik eingesetzt. Die Staatseinnahmen werden ausschliesslich aus Steuern generiert und der Staatshaushalt daher konjunkturabhängig, weshalb mit der Weltwirtschaftskrise auch der Trend zur Staatsverschuldung einsetzt. Die Erhebung und Verwaltung von Steuerdaten wird zur existenziellen Staatsangelegenheit. Durch den migrationsbedingten Wachstumsschub der Bevölkerung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lässt sich die Auswertung der Steuerdaten nicht mehr manuell, sondern nur mehr maschinell bewerkstelligen. Die Lochkartentechnologie und in ihrem Gefolge die elektronische Datenverarbeitung werden zur Bedingung der Möglichkeit postmoderner Staatsverwaltung.
Im vierten und letzten Teil 1950–1998 beschreibt Illi, wie Quantifizierung (sprich Digitalisierung zunächst durch Grossrechner) und Staatsverschuldung zu einer Ökonomisierung (nicht nur) der Zürcher Kantonsverwaltung führen. In dieser vierten Phase steigen die Ausgaben für die «soziale Wohlfahrt» signifikant an. Schliesslich ist es die massive Verschuldung durch die Rezession der 1990er-Jahre, die zu ebenso massiven Sparübungen wie zum Umbau des eben erst etablierten Sozial- und Wohlfahrtsstaats führt: Mit den Mitteln des new public management (sprich «wirkungsorientierte Verwaltungsführung») funktioniert neoliberale Politik den Staat zum kundenorientierten Dienstleistungsunternehmen um. Seine Darstellung krönt Illi mit der ebenso schönen wie streitbaren These, dass die Verwaltung vom (ausgehenden) Ancien Régime bis Mitte des 19. Jahrhundert ökonomisch geprägt war, worauf mit dem Zeitalter der Bürokratisierung eine legalistische, durch Verrechtlichung definierte Verwaltung folgte, die am Ende des 20. Jahrhunderts wieder ökonomisiert worden ist und nach betriebswirtschaftlichen und Kriterien der Public Relations geführt wird.
Damit liefert der temporäre Staatshistoriker zwar keine bahnbrechend neuen Forschungsergebnisse, schafft es aber, die bisher unbekannte und ungeschriebene Organisationsgeschichte der Zürcher Kantonsverwaltung dem Forschungsstand der gegenwärtigen Verwaltungshistoriografie einzuschreiben. Das macht die Studie zu einem ausgezeichneten «Findmittel» und «Wegweiser zu den Akten» (Regierungspräsident Markus Notter in seinem Vorwort, 7) beziehungsweise zu einem «Handbuch und Nachschlagewerk», (11) das zu einer Fülle von Fragen und weiteren Forschungen Anlass und Anregung bieten kann. Die paratextuellen Strukturen des Buchs unterstützen diese Gebrauchsfunktion mustergültig: 80 Tabellen, 28 Organigramme, 18 Grafiken, zahlreiche illustrierende Bilder, Marginalien, Verweise auf die Fortsetzung der einzelnen Direktionsgeschichten und (leider nur) ein Personenregister ermöglichen eine tatsächlich vielschichtige Lektüre, welche für die Lektürestrapazen der eigentlichen Hauptteile, der Geschichte der einzelnen Verwaltungsgremien und Direktionen, entschädigt. Diese lesen sich ärgerlicherweise über weite Strecken wie verschriftlichte Organigramme mit den Namen der Amtsträger. Auch die dort eingestreuten Skandalgeschichtchen bleiben vornehmlich unmotiviert und ihr verwaltungsgeschichtlicher Zusammenhang unklar. Hingegen ist es das exklusive Verdienst von Illi, mittels Baugeschichte, Fotografien, Grundrissplänen und Inventarlisten die topografischen Verschiebungen der Zürcher Kantonsverwaltung und die (innen)architektonischen Umgestaltungen ihrer Kernzellen, der Büros, rekonstruiert zu haben.
Alles in allem ist dieses Panorama der zürcherkantonalen Verwaltungsaufgaben der letzten 200 Jahre als Auftragswerk vielleicht kein Buch der Geschichtswissenschaft – es sei denn, die Zeiten staatstragender Historie sind doch noch nicht vorüber –, aber in jedem Fall ist es ein Buch für die Geschichtswissenschaft. Da und dort hätte sich der rezensierende Verwaltungshistoriker gewünscht, nicht nur zu erfahren, was Verwaltungen so alles tun, welche Staatsaufgaben sie zu erledigen haben, sondern auch wie Verwaltungen ihre Staatsaufgaben erledigen, kurz und in adiectio: wie Verwaltungen verwalten. Illi jedenfalls hat sich die Verwaltungsgeschichte dieses Kantons so einverleibt, dass am Ende die Vermutung bleibt, der Autor habe nicht alles Bedeutsame, was er über die Verwaltungsgeschichte des Kantons Zürich zu sagen weiss, auch aufgeschrieben.
Stefan Nellen (Basel) in Traverse 2009/3