Artifizielle Körper – lebendige Technik
Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive
Interferenzen – Studien zur Kulturgeschichte der Technik, Band 8
Broschur
2005. 286 Seiten
ISBN 978-3-0340-0690-3
CHF 38.00 / EUR 31.00 
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Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden Begriffe wie «Cyborg», «Hybrid», «Android», die Mischwesen aus Mensch und Maschine bezeichnen, hauptsächlich in der schrillen Welt der Science Fiction Literatur verwendet. Heute gehören sie zu den dominanten Metaphern eines Diskurses, der das Zeitalter des Posthumanismus aufscheinen sieht. Die symbiotische Vereinigung von Körper und Technik, so befürchten viele und feiern manche, soll durch neueste Entwicklungen in Feldern wie der Künstlichen Intelligenz und Neuroprothetik, der Bio- und Gentechnik und seit jüngstem der Nanotechnologie vor ihrer Vollendung stehen. Chips im Gehirn, manipulierte Keimzellen oder die kontrollierte Steuerung biologischer Substrate auf der Nanoebene - die biotechnischen Forschungspotenziale scheinen unbegrenzt. Ohne Kontrolle werden sie den Menschen, so wird orakelt, zu einer gefährdeten Spezies machen.
Entgegen jedem posthumanistischem Credo gehen die in diesem Band versammelten Autoren von der Grundannahme aus, dass der menschliche Körper nicht gesamthaft technisierbar ist, sich folglich auch nicht in Technik auflösen wird. Diese Annahme beruht nicht so sehr auf einer Vorstellung von den Grenzen des technisch Machbaren, die prometheische Visionen immer wieder auf den Boden der Realität zurückholt. Zwar kann die lange Geschichte der Körpertechnologien vielfach von dem Widerspruch zwischen Fakt und Fiktion, programmatisch Entworfenem und tatsächlich Erreichtem erzählen. Ungeachtet dessen war der menschliche Körper jedoch zu keinem Zeitpunkt ein vorgängig gegebenes Objekt technischer Manipulation. Vielmehr wurden in wechselnden historischen Konstellationen immer wieder neue Vorstellungen vom Körper durch ein Gefüge verschiedenster Verfahren, Diskurse und Praktiken erzeugt, die als Ausgangspunkt für technische Versuche zur Verbesserung einzelner Körperfunktionen dienten.
Aufschlussreicher als das abstrakte evolutionäre Denken einer uneinholbar fortschreitenden technischen Auflösung des Menschlichen ist daher die konkrete Untersuchung einzelner Projekte, die unter je spezifischen epistemischen Voraussetzungen das Verhältnis von Mensch und Maschine, Technik und Körper neu zu gestalten versuchten. An Beispielen wie dem künstlichen Auge, Ohr oder Herzen, der technischen Wiederherstellung des kriegsversehrten Körpers oder der Selbsterschaffung durch Wellnesstechnologien und Schönheitschirurgie zeigen HistorikerInnen und WissenschaftsforscherInnen in diesem Band, dass die lange Zeit unhinterfragte Dichotomie von «Natur» und «Technik» nicht erst in Folge jüngster Entwicklungen fragwürdig geworden ist.

Barbara Orland ist geschäftsführende Oberassistentin am Kompetenzzentrum «Geschichte des Wissens», Professur für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Biomedizin sowie Biotechnologie in Landwirtschaft und Ernährung. Daneben ist sie damit befasst, eine Online-Einführung in die Technikgeschichte zu entwickeln. Veröffentlicht hat sie zu Konsum- und Alltagsgeschichte, Geschlechtergeschichte und Entstehung der Populärwissenschaft. In Buchform erschienen sind unter anderem: Wäsche Waschen. Technik- und Sozialgeschichte der häuslichen Wäschepflege, 1991; Haushaltsträume. Ein Jahrhundert Rationalisierung und Technisierung im Haushalt, 1990; Das Geschlecht der Natur, 1995, hg. mit Elvira Scheich.


Bücher im Chronos Verlag


Aufsätze im Chronos Verlag

Artikel
  • Wo hören Körper auf und fängt Technik an? Historische Anmerkungen zu posthumanistischen Problemen
  • Leib–Arte–Fakt. Künstliche Körper und der technische Zugriff auf das Leben
  • Künstliches Leben produzieren. Denkparallelen im Automatenbau des 18. Jahrhunderts und heute
  • «Bewegung» und «Rührung». Musik spielende Androiden und ihre kulturelle Bedeutung im späten 18. Jahrhundert
  • Eine «unästhetische Prozedur». Debatten über «künstliche Befruchtung» um 1910
  • «Der Tod wird nicht von einer Maschine entschieden». Hirntoddiagnostik in der Schweiz von 1960 bis 2000
  • Brave Old World. Recycling der Kriegskrüppel während des Ersten Weltkriegs
  • Das künstliche Auge. Zur Geburt des Cyborgs in der Sinnesprothesenforschung
  • «Der Dracula der Medizintechnik». Das künstliche Herz als therapeutische Technik für kardiovaskulare Krankheiten
  • Der Einbau von Technik in das Gehirn. Das Wechselspiel von Informationsbegriffen und Technologieentwicklung am Beispiel des Hörens
  • Kleider machen Cyborgs. Zur Geschichte der Wearable-Computing-Forschung
  • Schönheitschirurgie. Schnittflächen flexiblen Selbstmanagements
  • «Körper, Geist und Seele bepuscheln …». Wellness als Technologie der Selbstführung

Pressestimmen
«Der vorliegende Sammelband bietet einen überaus gelungenen, perspektivisch anregenden und thematisch vielschichtigen Überblick zur Wissenschafts- und Technikgeschichte menschlicher Körper seit dem 18. Jahrhundert.» Querelles-Net

Besprechungen
Körper, künstlich lx. Noch vor nicht allzu langer Zeit gehörten Begriffe wie «Androide» oder «Cyborg» zum Vokabular der Science-Fiction-Literatur. Mittlerweile scheinen sich aber die Konturen des Künstlichen in den menschlichen Körper selbst hineinverlagert zu haben. Die Wissenschaft ist dabei, Szenarien für manipulierte Keimzellen oder ins Gehirn implantierte Chips zumindest ernsthaft zu diskutieren. Und sowieso hat der gegenwärtige Boom der Schönheitschirurgie für viele Zeitgenossen die Grenze zwischen «echt» und «künstlich» verschwinden lassen. Ist der gute alte Mensch mit seinem klar definierbaren Körper am Verschwinden? Leben wir in einem «posthumanistischen» Zeitalter? Ein Aufsatzband, der sich mit den «technischen Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive» befasst, kann hier Licht bringen. Die Historikerin Christina Benninghaus befasst sich darin mit den Ursprüngen der «künstlichen» Befruchtung am Menschen und zeigt auf, dass die «natürliche» Natur des Menschen schon immer zur Debatte stand, wo es um Eingriffe im und am Körper ging. Schon 1911 hat der Leipziger Medizinalrat Hermann Rohleder eine Abhandlung über «Die künstliche Zeugung beim Menschen» verfasst. Der Erfolg des Buches war durchschlagend. Dennoch - dies der Tenor der Aufsätze - sei der menschliche Körper doch nicht gesamthaft technisierbar. Artifizielle Körper - Lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive. Herausgegeben von Barbara Orland. Chronos-Verlag, Zürich 2005. 286 S., Fr. 38.-. Publiziert mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung. Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Samstag, 26.03.2005 Nr.71 46 (c) 1993-2005 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 1

Die in dieser Reihe erscheinenden Studien untersuchen technische und wissenschaftliche Entwicklungen in der Neuzeit. Sie fragen nach dem historischen Entstehungskontext und gehen der Frage nach, inwiefern verschiedene soziale Gruppen diese technischen Entwicklungen als Möglichkeit sozialen Wandels wahrgenommen, ausgehandelt und bisweilen genutzt oder vergessen haben. Der Ansatz erlaubt es, Innovationen als technisch und gesellschaftlich voraussetzungsreiche Prozesse zu verstehen und zu erklären.