Die italienischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die nach 1945 in die Schweiz geholt wurden, begannen sich nach 1964 für die Bildung zu engagieren. Sie initiierten ein differenziertes Angebot an allgemeiner und beruflicher Weiterbildung und bauten schulergänzende Betreuung und Unterstützung für ihre Kinder auf. Ebenso diskutierten sie Berufsqualifikation und Schulbildung in der Emigration und brachten sich in bildungspolitische Debatten in der Schweiz ein.
Philipp Eigenmann legt dar, wie die Zugewanderten ihre pädagogischen Bestrebungen trotz der damaligen restriktiven Haltung gegenüber ausländischen Arbeitskräften umsetzten. Mit ihren Aktivitäten verfolgten die Migrantinnen und Migranten verschiedene Ziele. Einerseits zielten sie mit den von ihnen gegründeten italienischen Weiterbildungsorganisationen auf einen besseren Arbeitszugang wie auch auf eine Demokratisierung von Bildungs- und Arbeitswelt. Andererseits zeigen die damaligen kontroversen Diskussionen darüber, ob die Kinder der Zugewanderten besser italienische Schulen oder die öffentlichen Regelklassen besuchen sollten, wie die unklare Bleibeperspektive den Umgang mit Bildung strukturierte. Die Untersuchung nutzt Quellen italienischer Emigrationsorganisationen aus dem Raum Zürich und wirft einen neuen Blick auf die Geschichte der Migration.
«Da Eigenmann nicht von der Schweizer Mehrheitsgesellschaft ausgehend argumentiert, sondern die immer auch in transnationalen Räumen handelnden und debattierenden Migrantenorganisationen und deren bildungsbezogenen Aktivitäten und Akteure in den Mittelpunkt rückt, bietet seine Studie bildungs- wie sozialgeschichtlich Interessierten eine spannende Perspektive auf die Schweizer Zeitgeschichte und die dort noch kaum bearbeitete Frage nach dem Zusammenhang von Bildung und Migration. [...] Wie Eigenmann zeigen kann, bot sich den Zugewanderten ein lediglich beschränktes Qualifikationsangebot, das sich an den „Branchen des Prekariats“ ausrichtete. [...] Schließlich: Die Rezensentin hat sich über den geschlechtssensiblen Untersuchungsansatz gefreut, der an vielen Stellen versucht, den weiblichen Part gleichermaßen einzubeziehen, so etwa wenn es um das an Frauen adressierte geschlechtsspezifische Weiterbildungsangebot für Textilindustrie und Büro geht. [...] Philipp Eigenmann [ist es] gelungen, eine theoretisch und methodisch reflektierte, nachvollziehbar gegliederte und gut lesbare Untersuchung vorzulegen. Damit leistet er sowohl für die Bildungsgeschichte wie für die Migrationsgeschichte der Schweiz einen wichtigen und anregenden Beitrag, der für zukünftige Arbeiten viele Anknüpfungspunkte bietet.»
Vollständige Rezension
«Eigenmanns Studie leistet einen bedeutsamen Beitrag zur Schweizer Migrations- und Bildungsgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Darstellung wurde in wohltuender Weise nicht als Geschichte der erfolgreichen/gescheiterten Integration einer Einwanderergruppe aufgegleist, ebenso wenig wird die Bildungsarbeit als migrantischer Kampf gegen die diskriminierende Dominanzgesellschaft oder als diasporische Überwindung des Nationalstaats überhöht. Dem Autor gelingt es insbesondere, die soziale, kulturelle und politische Heterogenität der involvierten Akteure und Interessen darzustellen, die sonst allzu häufig durch die ethnische Brille aus dem Blick gerät. Man würde sich definitiv mehr solch kluge Fallstudien wünschen.»
«Eigenmann präsentiert eine spannend geschriebene Studie, die interessante Hintergrundinformationen und zahlreiche Details über die migrantischen Bildungsbestrebungen und -angebote der 1960er bis 1980er Jahre gibt. Er setzt Migranten und Migrantinnen konsequent als ‹Subjekte (…) pädagogischer Entwicklung› ins Zentrum und erinnert dadurch daran, wie häufig deren Perspektive auch in der heutigen Diskussion um Bildung und Migration fehlt. Er zeigt Kontingenz und Kontinuität im Diskurs um Bildung und Migration auf, lädt ein, Migration und Bildung in transnationalen sowie gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen zu verstehen und verdeutlicht, wie Bildungsbestrebungen und -angebote der Migranten und Migrantinnen in Anschluss, Abgrenzung und als Ergänzung zu staatlichen Vorlagen des Herkunfts- und Aufenthaltslandes und in Zusammenarbeit mit staatlichen Bildungsinstitutionen und gesellschaftlichen Akteuren aus- und verhandelt wurden. Ein Buch für alle, die sich für Bildung und Migration sowie für die (bisher noch wenig bearbeitete) Schnittstelle historischer Bildungs- und Migrationsforschung interessieren und dafür, wie interdisziplinäre Sichtweisen, transnationale Perspektiven und der Einbezug postkolonialer Ansätze den Blick auf scheinbar altbekannte Themen öffnen und an- bzw. bereichern können.»
«Eigenmann gelingt es verdienstvollerweise, die Anstrengungen des migrantischen ‹Milieus› für die berufsbildende Aus- und Weiterbildung von Migrantinnen und Migranten und für die schulische Integration ihrer Kinder zu beschreiben und zu analysieren. Die allmählich realisierten Bildungsmöglichkeiten bezieht er, wenn auch nicht isoliert, auf diese Anstrengungen. Dies ist in der schweizerischen Migrationsgeschichte ein seltener, aber bedeutsamer Zugang, ist es damit doch möglich, transnationale Strategien und hybride Identitätsdefinitionen in ihren schweizerischen bzw. lokalen Prozesshaftigkeiten zu verfolgen. [...] Die Arbeit von Philipp Eigenmann ist für die Geschichte der schweizerischen Gesellschaft der Nachkriegszeit bedeutsam, weil sie die Möglichkeit weiter öffnet, diese schweizerische Gesellschaft als eine Migrationsgesellschaft zu verstehen und Migrantinnen und Migranten als konstitutiv für die weitere Entwicklung zu begreifen. Sie ist aber auch wichtig, weil sie eine Rückblende aus einer Diskussion heutiger Migrationsströme erlaubt, deren Charakteristika mit Hybridität von Identitäten und Leben in transnationalen Räumen beschrieben und diskutiert werden.»
«Wie Eigenmann zeigt, waren Bildung und bildungspolitische Integration der italienischen Migrantinnen und Migranten in Zürich ein Terrain, auf dem harte Kämpfe ausgefochten wurden. Einerseits zwischen den Migrantenorganisationen und den einheimischen Bildungsinstitutionen, andererseits unter den Migranten selbst. [...] Die Auseinandersetzungen zeigen, wie wichtig die Bildungsfrage für alle Beteiligten war. Und sie trugen trotz vielerlei Widerständen längerfristig zur Integration der italienischen Migranten und ihrer Kinder bei, zumindest jener, die gekommen waren, um zu bleiben.»