Aktuelle Forschungen haben gezeigt, dass eugenische Theorien und eine entsprechende Praxis auch in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitet waren und dass die Schweiz in gewissen Aspekten auch eine Vorreiterrolle spielte. Die Forschung konzentrierte sich dabei vor allem auf die Psychiatrie. Das Verhältnis zwischen Heilpädagogik und Eugenik wurde bisher noch nicht untersucht, obwohl gerade die Heilpädagogik Zuständigkeit für einen grossen Teil der Menschen beanspruchte, die aus eugenischer Sicht als «erbkrank» und «minderwertig» bezeichnet wurden und Objekte eugenischer Massnahmen waren.
In einem ersten Teil des Buches wird die Geschichte der Heilpädagogik in der deutschsprachigen Schweiz als Praxis, Profession und Disziplin in der Zeit zwischen 1800 und 1950 skizziert. Im zweiten Teil geht es um die Auseinandersetzung der Heilpädagogik mit dem Eugenikdiskurs vor allem in der Zeit zwischen 1920 und 1950. In der Zeit also, in der die Professionalisierung und disziplinäre Etablierung der Heilpädagogik in der deutschsprachigen Schweiz einsetzte. Dabei zeigt sich ein ambivalenter Umgang mit eugenischen Prämissen und Forderungen, der von der kritiklosen Übernahme, von einer strategischen Verwendung über die kritische Auseinandersetzung bis hin zur totalen Ablehnung eugenischen Gedankenguts reichte. Gleichzeitig macht die Untersuchung auch die für das heilpädagogisch-fürsorgerische Arbeitsfeld konstitutive Spannung zwischen Hilfe und Kontrolle sichtbar, die durch den Einfluss eugenischer Gedanken verstärkt wurde. Sie leistet damit einen differenzierten Beitrag zu einer aktuellen Forschungsdiskussion.
Am Abend des 22. Oktobers 1942 verabschiedete der Arbeitsausschuss der Schweizerischen Vereinigung für Anormale, Pro Infirmis, nach einer hitzigen Debatte ein Merkblatt folgenden Inhalts (Auszug):
«4. Wenn eine protestantische Fürsorgerin mit einem protestantischen Schützling zu einem protestantischen Arzt geht und dieser aus bestimmten Gründen die Sterilisation des Schützlings empfiehlt und die Fürsorgerin die Mittel für dieselbe beschafft, verletzt sie die Neutralität Pro Infirmis nicht. Mit Rücksicht auf die katholischen Kreise wird Pro Infirmis zur Zeit keine Beiträge an Sterilisationen leisten. Eine protestantische Fürsorgerin darf nie bei einem katholischen Schützling Sterilisation oder gar Schwangerschaftsunterbrechung empfehlen. Hier hat sie bei schwer gefährdeten Schützlingen oder bei degenerierten Familien katholisches Pfarramt, Arzt, Behörden zu mobilisieren, damit sie die erlaubten katholischen Hilfsmittel anwenden. Geschieht dies nicht, so wende sie sich an die Schweizerische Caritaszentrale L
«Wolfisberg fasziniert mit seiner profunden Recherche und mit seiner Fähigkeit, Details in grössere Zusammenhänge der Geschichte der Heilpädagogik, aber auch der Schweizer Geschichte einzubetten. … Wolfisberg ist es gelungen, ein hervorragendes, spannendes und an Fakten ausgesprochen reiches Werk zu schreiben, das die doppelte Herkunft und Kompetenz seines Autors als Historiker und Sonderpädagoge voll ausspielt. Das Buch beansprucht einen Platz als Standardwerk in allen Bibliotheken fachbezogener Ausbildungsstätten, aber auch im Studierzimmer jeder Heilpädagogin und jedes Heilpädagogen.»
Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
«[Die Untersuchung] leistet einen differenzierten Beitrag zu einer aktuellen Forschungsdiskussion.»
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik