Polenta und Paradeplatz
Regionales Alltagsleben auf dem Weg zur modernen Schweiz, 1880–1914
Gebunden
2000. 440 Seiten, 60 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-905314-07-6
CHF 48.00 / EUR 28.00 
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Der Alltag von Frauen, Männern und Kindern war vor hundert Jahren noch stark geprägt von den Bedingungen, die in der unmittelbaren Umgebung herrschten. Welche Arbeitsmöglichkeiten existierten in erreichbarer Nähe, wie sehr waren die Männer und Frauen in traditionellen Arbeitsgemeinschaften aufeinander angewiesen, und was bedeutete dies für das Verständnis von Liebe und Ehe?
Die einzelnen Schweizer Regionen boten unterschiedliche Chancen für individuelle berufliche Karrieren; diese Rahmenbedingungen prägten das Zusammenleben, die Formen des Wohnens, der innerfamilialen Kommunikation ­ aber auch das Selbstverständnis erfolgreicher Unternehmer, sich in den «Dienst» des Fortschritts der Region zu stellen.
Das regionale Umfeld in Stadt und Land, von den katholisch geprägten Walliser und Tessiner Bergtälern oder dem Freiburger Sensebezirk über industriell prosperierende Regionen wie das St. Galler Rheintal oder das Zürcher Oberland bis zur aufsteigenden Grossstadt Zürich, bildet den Hintergrund, vor dem das Alltagsleben von Menschen verschiedener Schichten rekonstruiert und verglichen wird. Facetten des vielfältigen Alltags fügen sich zu einem Mosaik zusammen, in welchem sowohl Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede des Schweizer Alltags um die Jahrhundertwende sichtbar werden.
Besprechungen
Alltagsleben auf regionalen Bühnen Auf dem Weg zur modernen Schweiz Kst. Heidi Witzigs Thema ist der Vergleich von Facetten des Alltagslebens und der Alltagsbewältigung von Frauen, Männern und Kindern in verschiedenen Regionen der Schweiz in den Jahren von 1880 bis 1914. Um diesen Alltag rekonstruieren zu können, baut die Autorin in ihrem Buch verschiedene regionale «Bühnen» auf: Walliser und Tessiner Bergtäler (Val d'Anniviers und Val d'Hérens, Maggia- und Verzascatal), den eng von der Stadt Freiburg abhängigen deutschsprachigen, katholischen Freiburger Sensebezirk, das protestantische Zürcher Oberland, das industriell durchdrungene und stark von einer Leitindustrie abhängige St. Galler Rheintal und schliesslich Zürich mit seinen Zentrumsfunktionen und der Attraktivität einer Grossstadt. Sie beschreibt die sechs «Bühnen» und vergleicht sie miteinander, um auf ihnen dann in vier «Akten» das regionale Alltagsleben sich abspielen zu lassen. Im ersten Akt, «Wie fristeten Frauen, Männer und Kinder ihr Leben?», werden schicht-, geschlechts- und konfessionsspezifische Besonderheiten des Arbeitsalltags herausgearbeitet. Der zweite Akt, «Wie lebten Frauen, Männer und Kinder zusammen?», ist dem Wohnen, dem Konsumieren und dem Kommunizieren gewidmet. Im dritten Akt, «Welche Instanzen gaben dem Familienleben Sinn?», behandelt die Autorin Fragen der Erziehung, der Frauen- und Männerrollen; sie untersucht den Einfluss der verschiedenen Identifikationsinstanzen (wie Kirche oder Schule) auf die wichtigsten Stadien des individuellen Lebenslaufs. Der vierte Akt, «Bemühungen um die Einbindung des Familienverbands in die öffentliche Verantwortung», zeigt unter anderem, wie regionaler Fortschritt und private wirtschaftliche Initiative bzw. Karriere durch die Ideologie des «gemeinsamen Nutzens» aneinander gebunden wurden. Die mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung publizierte Arbeit der auf Frauen- und Alltagsgeschichte spezialisierten Zürcher Historikerin Heidi Witzig ist eine breit angelegte, mit Anekdotischem angereicherte Auslegeordnung. Wenig Überraschung birgt die Schlussfolgerung, dass nämlich zwischen den strukturellen und mentalitätsmässigen Gegebenheiten und Entwicklungen einer Region und dem Alltagsleben beziehungsweise seiner Wahrnehmung durch Frauen, Männer und Kinder ein starker, sich im untersuchten Zeitraum noch intensivierender Zusammenhang bestand. Die Konkurrenz zwischen den Regionen, stellt die Autorin fest, bot immerhin die Chance, durch Auswanderung, zum Beispiel durch Umzug in die Stadt, die «Bühne» zu wechseln - eine Chance, die wesentlich zur wachsenden Mobilität in der Schweiz beigetragen haben dürfte und die am Anfang des bis heute anhaltenden Trends stand, urbane Regionen als attraktiv wahrzunehmen. Heidi Witzig: Polenta und Paradeplatz. Regionales Alltagsleben auf dem Weg zur modernen Schweiz 1880-1914. Chronos-Verlag, Zürich 2001. 448 S., Fr. 48.-, _ 28.-. Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Samstag, 25.05.2002 Nr.118 105 (c) 1993-2000 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 2