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«Welch ein Leben!»

Quellentexte zum gesellschaftlichen Umbruch in der Innerschweiz nach 1798

Clio Lucernensis, Band 5
Broschur
1998. 163 Seiten
ISBN 978-3-905312-63-8
CHF 32.00 / EUR 19.00 
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Geschichte entsteht im Dialog zwischen überlieferten Dokumenten und sich verändernden Fragestellungen, Hypothesen und Erwartungen. Der Quellenband "Welch ein Leben" ist weder eine Regionalstudie noch eine Überblicksdarstellung der bewegten Jahrzehnte zwischen 1798 und 1848. In drei Teile gegliedert, will das Buch bis jetzt noch nie publizierte Zeugnisse aus drei sozialen Lebenswelten einem breiten Publikum zugänglich machen. Zum einen führen Briefe in die Welt jener Frauen und Männer der Oberschicht ein, die mit aufklärerischem Gedankengut vertraut waren, sich intensiv mit Politik und den Umbrüchen der Zeit befassten, in deren Gedankenaustausch sich aber auch ein spezifisches Verständnis der Rollen von Frauen und Männern in Gesellschaft und Staat spiegelt. "Kleine Leute" stehen vor Gericht, weil sie gegen die Helvetik geschmäht oder "verdächtige" Wallfahrten unternommen haben. Ihre Verhöre liefern ein vielfach gebrochenes Abbild von Ängsten und Hoffnungen, aber auch von Weltbildern und Interessenlagen, von verwandtschaftlichen Beziehungen und Spannungen innerhalb einer dörflichen Gemeinschaft. In einem dritten Teil erzählen Duldungsgesuche und Gefängnisberichte, Protokolle von Hinrichtungen sowie Briefe von Kindern, die von ihren Familien getrennt wurden, von der Verfolgung nichtsesshafter Bevölkerung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.



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geboren 1962, studierte Geschichte und Germanistik an der Universität Basel, wo sie 2013 mit dieser Studie promovierte.


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Besprechungen

Zwischen Liberalismus und Rückständigkeit

Luzerner Publikationen zum frühen 19. Jahrhundert

Wie in anderen Kantonen hat man auch in Luzern das Jubiläum «150 Jahre
Bundesstaat, 200 Jahre Helvetik» zum Anlass genommen, ein bisher wenig
beleuchtetes Kapitel der Kantonsgeschichte aufzuarbeiten. Zu diesem
Zeitabschnitt sind verschiedene Publikationen entstanden, darunter auch der
entsprechende Teil der Luzerner Kantonsgeschichte.

lin. Die Jahre 1798 und 1831 markieren im Kanton Luzern zwei nachhaltig
wirkende politische Umgestaltungen, die Helvetik und die Regeneration.
Dazwischen liegen drei Jahrzehnte des Lavierens, des Schwankens zwischen
restaurativen und modernistischen Tendenzen. Unter
verfassungsrechtlich-politischem Aspekt erscheint die erste Hälfte dieser
Zwischenzeit, die Mediation, eher der Helvetik anverwandt, die
Restauration dagegen eher am Ancien Régime orientiert. Andererseits haben
gerade die bäuerlichen Politiker der Mediationszeit das revolutionäre
Gedankengut der Helvetik, das eigentlich ihrem Stand zugute kommen sollte,
nur selektiv rezipiert und nur da verwirklicht, wo es mit ihren konkreten
wirtschaftlichen Interessen übereinstimmte.

Soziales und wirtschaftliches Verharren

Tatsächlich seien die Divergenzen, welche die Mediation und die Restauration
untereinander und gegenüber den revolutionären Einschnitten von Helvetik und
Regeneration abgrenzen, mehr gradueller als grundsätzlicher Natur, hält
Heidi Bossard-Borner, die Verfasserin des im Jubiläumsjahr erschienenen
Bandes der Luzerner Kantonsgeschichte «Im Bann der Revolution. Der Kanton
Luzern 1798-1831/50» als Ergebnis ihrer Forschungen fest. Kontinuität
gewährleistete etwa eine kirchlich motivierte Kritik am Rationalismus der
Aufklärung, die sich als Anhänglichkeit breiter Bevölkerungskreise zu einer
gegenreformatorisch-barocken Religiosität manifestierte. Auf politischer
Ebene wird das Erbe des Ancien Régime vor allem darin fassbar, dass ein
guter Teil der Politiker aus den alten Eliten - dem städtischen Patriziat
und den Honoratioren der Landschaft - stammte. Von der Dynamik der
Revolution profitierte in erster Linie die Bevölkerung der Landschaft, die
sich durch Bildung zu emanzipieren und aus ständischer Abhängigkeit von
Grund und Boden zu lösen vermochte.
Als Hypothek vererbten sich jedoch die strukturellen Schwächen der Luzerner
Wirtschaft. Die einseitige Ausrichtung auf die Landwirtschaft, der Mangel an
unternehmerischer Kapazität und Investitionsbereitschaft für industrielle
Produktionsformen und die Abhängigkeit der Heimindustrie und des
Manufakturwesens von auswärtigen Verlegern und Märkten führten dazu, dass
bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus grosse Teile der Bevölkerung
unmittelbar von Armut bedroht waren. Heidi Bossard-Borners Gesamtschau auf
die teilweise bereits durch frühere Forschungen bekannten Fakten der
Luzerner Wirtschafts- und Sozialgeschichte deckt ein in der Innerschweiz bis
jetzt noch wenig beleuchtetes historisches Untersuchungsgebiet ab und
liefert auch Hinweise zu Strukturen in den anderen Zentralschweizer
Kantonen, wo solche Forschungen bisher noch fehlen.

Die Mentalitäten des Sonderbunds

Ebenfalls dieser komplexen historischen Phase galt ein Symposium der
Historischen Gesellschaft Luzern. Die Vorträge sind in deren diesjährigem
Jahrbuch versammelt. Neben Heidi Bossard-Borner, die darin vor allem die
Aspekte zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte aus ihrem Buch herausgreift,
beleuchten Carlo Moos und Markus Ries die konfessionell-religiöse
Mentalitätsgeschichte, die zu einem Sonderbund mit Bürgerkrieg führen
konnte. Carlo Moos nimmt sich dabei das weltanschauliche Fundament des
«Chefideologen» des Sonderbunds, Constantin Siegwart-Müller, vor und
versucht, aus dessen Rückschau «Der Kampf zwischen Recht und Gewalt in der
Schweizerischen Eidgenossenschaft und mein Anteil daran» (1864) eine
allgemeine konservativ- paternalistische politische Haltung für die 1840er
Jahre zu rekonstruieren. Markus Ries untersucht vor allem den Kirchenalltag
im frühen 19. Jahrhundert, das Zurücknehmen der zaghaften kirchlichen
Neuerungen und die verstärkte moralische Kontrolle durch die Kirche nach dem
konservativen Umschwung im Kanton Luzern im Jahr 1841.

Neue Wege der Geschichtsvermittlung

Geschichtsschreibung fusst auf historischen Zeugnissen, aus denen
Darstellungen und Interpretation erwachsen. Das kritische und in neuen
Zusammenhängen auch immer wieder andere Lesen von Quellen hat bei den
Historikerinnen und Historikern des Forschungsprojektes «Innerschweizer
Volks- und Elitekultur 1798-1848» an der Universitären Hochschule Luzern zum
Wunsch geführt, einen Band von Texten zum gesellschaftlichen Umbruch in der
Innerschweiz nach 1798 herauszugeben. Unter dem Titel «Welch ein Leben!»
sind Quellen wie Briefe und Verhörprotokolle versammelt, die bewusst nicht
interpretiert werden, jedoch in ein interpretiertes Umfeld gestellt sind.
Sie betreffen drei Themenkreise aus der Zeit der Helvetik und der
nachfolgenden Jahrzehnte. Sie zeigen Heimatlosigkeit und ländlichen
Widerstand gegen die helvetische Verfassung und vermögen das Gefühl von
Unsicherheit, falscher oder unvollständiger Information und Misstrauen, das
in jener Umbruchzeit in der Bevölkerung herrschte, direkt zu vermitteln.
Ebenso veranschaulichen Briefe, die in der städtischen Oberschicht der
verschiedenen Kantone hin und her gingen, den schriftlichen Austausch über
politische Neuigkeiten, bei dem Kantonsgrenzen, Geschlecht und religiöse
Bekenntnisse eine geringere Rolle spielen als erwartet.
Eine geschlechtergeschichtliche Sicht auf die politischen Gegebenheiten
zwischen 1798 und 1848 bietet die Publikation «Mit Pfeffer und Pfiff.
Luzernerinnen zwischen 1798 und 1848», welche zugleich die Zusammenfassung
der diesjährigen Luzerner Frauenstadtrundgänge in Buchform bildet. Die
Beiträge dieses bebilderten Bandes gehen der Frage nach, wie und in welchen
Punkten die Frauen von den Umwälzungen des frühen 19. Jahrhunderts betroffen
waren.

Heidi Bossard-Borner: Im Bann der Revolution. Der Kanton Luzern
1798-1831/50. Rex-Verlag, Luzern 1998. 350 S., Fr. 58.-.
Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Luzern 16/1998. Bestellung:
Staatsarchiv, Postfach, 6000 Luzern 7. Fr. 35.-.
Brigitte Baur, Evelyn Boesch, Lukas Vogel (Hrsg.): «Welch ein Leben!»
Quellentexte zum gesellschaftlichen Umbruch in der Innerschweiz nach 1798.
Chronos-Verlag, Zürich 1998. 160 S., Fr. 32.-.
Evelyn Boesch, Barbara Gerhardt: Mit Pfeffer und Pfiff. Luzernerinnen
zwischen 1798 und 1848. Rex-Verlag, Luzern 1998. Fr. 29.80.

Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung LITERATUR 16.01.1999 Nr. 12 16


Der von Brigitte Baur, Evelyn Boesch und Lukas Vogel herausgegebene Quellenband ist im Zusammenhang mit laufenden Forschungsarbeiten des Geschichtsprojektes Zentralschweiz 1798/1848 entstanden. Vorab alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen verpflichtet, widerspiegelt diese Edition das Interesse an einzelnen Menschen mit Namen und unterscheidbarer Geschichte sowie an typischen oder singulären Vorstellungswelten.
Das Buch besteht aus drei Teilen, die anhand je spezifischer Quellengattungen drei verschiedene Sozialgruppen zur Darstellung bringen. Im ersten Teil vermittelt Lukas Vogel anhand von Verhörakten einen Einblick in die Beweggründe des ländlichen Widerstandes gegen die Helvetische Republik. Im zweiten Teil präsentiert Evelyn Boesch Briefe aus der städtischen Oberschicht, genauer aus dem Luzerner Patriziat. Die Gerichts- und Polizeiakten des dritten Teils von Brigitte Baur rücken die Gruppe der Nichtsesshaften, vor allem die sogenannten Bettler und Vaganten, in den Mittelpunkt. Alle Quellentexte beziehen sich auf den geographischen Raum der Innerschweiz. Das Schwergewicht liegt auf der Zeit der Helvetischen Republik. Dank der umsichtigen und geschickten Quellenauswahl gelingt es den HerausgeberInnen, über die Kernthemen hinaus weitere Bereiche schlaglichtartig zu beleuchten, beispielsweise unterschiedliche Erfahrungen von Heimat und Identität, die Bedeutung von Gerüchten und Prophezeiungen für die politische Kultur oder das Verhältnis von Individualität und Konvention.
Der Quellenband richtet sich bewusst an ein grösseres Publikum. Es ist denn auch ein besonderes Verdienst dieser Publikation, dass sie zur so dringend notwendigen besseren Vermittlung neuer Forschungserkenntnisse und Forschungsansätze, insbesondere auch im Schulunterricht, hinarbeiten will. Kurze, verständlich geschriebene Einleitungen zu den drei Abschnitten, die erläuternden Texte zu den einzelnen Quellen sowie die benutzerfreundliche Transkription leisten dazu einen wertvollen Beitrag.
Wie die HerausgeberInnen in der Einleitung selber bemerken, folgt die Anordnung der Quellen innerhalb der thematischen Teile keiner inneren Notwendigkeit. Dies ist mit Blick auf das Gesamtkonzept der Edition durchaus nachvollziehbar. Problematischer ist es meines Erachtens hingegen, dass auch zwischen den einzelnen Teilen kaum Bezüge erkennbar sind. Obwohl im Rahmen des gleichen Projektes entstanden, vermitteln sie den Eindruck, die Forschungsschwerpunkte seien isoliert gesetzt und behandelt worden. Zudem sind sie thematisch und zeitlich sehr eng formuliert. Vor diesem Hintergrund rückt der Aspekt des sozialen Wandels, auf den ja auch im Untertitel der vorliegenden Publikation - noch viel stärker aber im ursprünglich angekündigten Titel («Eine Welt in Bewegung») - verwiesen wird, in den Hintergrund. Gleiches gilt für die Forderung nach einer vergleichenden Analyse, die sowohl angesichts der besonders stark ausgeprägten Fragmentierung des Innerschweizer Raumes als auch in Anbetracht der völligen Absenz einschlägiger Arbeiten als unverzichtbar erscheint. Gewiss: Keine Quellenedition kann solche Erwartungen einlösen. Um so mehr wäre zu begrüssen, wenn die laufenden Arbeiten im Rahmen des Innerschweizer Forschungsprojektes «Volks- und Elitekultur 1798-1848» die Frage des sozialen Wandels und die vergleichende Sozialgeschichte stärker gewichten könnten.

Urs Kälin (Altdorf)
traverse - Zeitschrift für Geschichte - Revue d'histoire 1999 / 01