Henri Nestlé (1814–1890)
Vom Frankfurter Apothekergehilfen zum Schweizer Pionierunternehmer
Gebunden
1993. 332 Seiten, 23 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-905311-27-3
CHF 68.00 / EUR 38.00 
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Das Buch verfolgt den Weg Henri Nestlés vom Apothekergehilfen in Frankfurt am Main über den traditionellen Kleinproduzenten zum erfolgreichen Pionierunternehmer in der Schweiz.
Mit der Entwicklung, der Herstellung und dem Vertrieb des Kindermehls Ende der 1860er Jahre legte Nestlé den Grundstein zu einem Unternehmen, dessen Produkte innert kurzer Zeit auf allen fünf Kontinenten Verbreitung fanden. Seine Strategie war so erfolgreich, dass sie nicht nur von seinen Nachfolgern übernommen, sondern auch für seine Konkurrenten beispielhaft wurde.
Nestlé gewann im Alter von 54 Jahren ein präzises Bild vom Nutzen, den ein Kindernahrungsmittel stiften würde; er verstand die Wissenschaftssprache seiner Zeit, in der man Verkaufsargumente zu formulieren hatte; er durchbrach die Fixierung seiner Zeitgenossen und Konkurrenten auf diesen oder jenen angeblich besonders geeigneten Nährstoff und erkannte in der Synthese die Lösung des Problems.
Nestlé, der seine Lebenskarriere optimal zu gestalten wusste, verkaufte seinen Betrieb 1875 für eine Million Franken und widmete sich fortan einem durchaus herrschaftlichen Lebensstil. Er blieb dabei höchst aktiv, stilsicher in einer Rolle, die zu erlernen er bisher wenig Gelegenheit hatte. Das Buch entwirft ein anschauliches Bild vom Unternehmer, der seinen Lebensabend als letztes Projekt sehr dezidiert gestaltet, zum Gesamtkunstwerk entfaltet. Da manifestiert sich mehr als angelernte Ästhetik, da reflektiert sich ein hohes Mass an ästhetischem Sinn.
Pressestimmen
ALBERT PFIFFNER HENRI NESTLÉ (1814-1890) VOM FRANKFURTER APOTHEKERGEHILFEN ZUM SCHWEIZER PIONIERUNTERNEHMER CHRONOS, ZÜRICH 1993, 330 S., 23 ABB., FR. 68.- «Ils existent en France au moins deux millions d'enfant qui consomment journellement quatre cent quintaux à substances solides. Si je puis fournir au commencement seulement quatre quintaux de cette consommation énorme par jour avec un bénéfice de 160 franc cela fesait 58'000 frs. par an [...]. En ajoutant la consommation des pays du midi, d'Angleterre, Amérique etc. on pourra créer une industrie colossale et unique dans son genre.» (S. 123) Im März 1868, wenige Monate nach der Erfindung seines Kindermehls und zu einem Zeitpunkt, da er in der Kleinstadt Vevey täglich ein Dutzend Schachteln davon absetzen konnte, entwickelte Henri Nestlé, ein selbständiger, bis anhin wirtschaftlich nicht sonderlich erfolgreicher Kleinunternehmer, diese euphorische Vision. Nestlé, 53 Jahre alt und kinderlos verheiratet, sollte damit recht behalten. Zwar wurde er, der in Vevey 1839 als Apothekergehilfe angefangen hatte, ehe er sich 1843 selbständig machte und als Kaufmann in finanziell meist angespannten Verhältnissen mit verschiedensten Waren handelte, die er mehrheitlich selbst herstellte (u. a. Öl, Liköre, Essig, die Mineralfarbe Bleiweiss, Mineralwasser und Limonade, Kunstdünger, Flüssiggas und Beleuchtungsgegenstände), nicht «Millionär in kurzer Zeit» (S. 123). Als er 1875, nach sieben weiteren, arbeitsintensiven Jahren sein Unternehmen, das «Nestlés Kindermehl» in mittlerweile 18 Ländern auf allen fünf Kontinenten absetzte, mitsamt seinem Namen und seiner Unterschrift verkaufte, konnte Nestlé die ehedem erträumte Million aber einstreichen. Sechzigjährig und bei bester Gesundheit trennte er sich mit einer verblüffenden Radikalität von seinem Lebenswerk, der prächtig prosperierenden Kindermehlfabrik, kaufte Liegenschaften in Glion und Montreux und verbrachte daselbst mit seiner Gattin den Lebensabend bis zu seinem Tod im Jahre 1890. Albert Pfiffner legt mit seiner Dissertation nicht ausschliesslich eine Biographie vor. Nicht zufällig findet sich der Begriff Biographie gerade einmal: auf S. 14, in einer beiläufigen Erwähnung. Akribisch rekonstruiert er die Lebensgeschichte von der Wiege des «Heinrich Nestle» in einer Frankfurter Bürgerfamilie über die Auswanderung ins waadtländische Vevey bis zum Grabstein in Montreux durch eine - erstmals geleistete - umfassende Aufarbeitung der Quellen. Sein Hauptinteresse gilt dabei der Darstellung und Erklärung der Entwicklung Nestlés vom einfachen Apothekergehilfen zum erfolgreichen Pionierunternehmer, welche sich im Zeitraum von 1839 bis 1875 zugetragen hat und die von Pfiffner als Ergebnis eines Lernprozesses begriffen wird. Das erste Kapitel (die Frankfurter Zeit) und das letzte (Lebensabend in Glion und Montreux) komplementieren diese und runden sie ab zu einer integralen Biographie Henri Nestlés. An Nestlés Lebensgeschichte interessiert somit vordringlich ihr Mittelteil: die Phase seiner Erwerbstätigkeit (Kapitel 2-5). Im Abschnitt «Theoretische Einführung» (der sich bezeichnenderweise erst zu Anfang des zweiten Kapitels findet) erläutert Pfiffner den von ihm gewählten Blickwinkel auf Nestlés Handeln: In Henri Nestlé muss ein «Pionierunternehmer» deswegen erkannt werden, weil er in sich die unterschiedlichen Fähigkeiten des Erfinders und des Unternehmers vereinigte. Er erfand nicht nur 1867, in einer Zeit grosser Säuglingssterblichkeit und verbreiteten Nichtstillens, ein gebrauchsfertiges Kindermehl als erstes auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierendes, vollständiges Ersatznahrungsmittel für Säuglinge, sondern schaffte durch geeignete Marketingstrategien auch den Marktdurchbruch. Einen Ansatz Hansjörg Siegenthalers verwendend, geht Pfiffner weiter davon aus, dass Pionierleistungen nicht Folge einer bestimmten Persönlichkeit oder eindeutig festlegbarer Persönlichkeitsmerksmale sind, sondern vielmehr ein Ergebnis von Lernprozessen. Ein initiatives Individuum mit der Bereitschaft, sich auf Lernprozesse einzulassen, also der Fähigkeit oder Flexibilität, bisherige Weltbilder, Orientierungen und Verhaltensweisen zu überdenken und zu ändern, ist dazu in der Lage. Angeregt werden seine sogenannten «fundamentalen Lernprozesse» dabei in der Regel durch äussere Umstände, die das Individuum in einen Engpass oder eine persönliche Krisensituation geraten lassen, in ihrer Richtung gelenkt teilweise durch das kommunikative Netz von Vertrauenspersonen. Wie kam es aber konkret zur Erfindung des Kindermehls, und wie wurde Henri Nestlé damit zum Pionierunternehmer? Albert Pfiffners Darstellung und Erklärung dieses Prozesses lässt sich - stark verkürzt - wie folgt zusammenfassen: Erfindungen sind, so Pfiffner, «Produkt eines mehrschichtigen Prozesses» (S. 79). In diesem verknüpfen sich: (1) Weltbild, Verhalten, Wissens- und Erfahrungsstand der Person des Pioniers (sie alle verändern sich durch dessen Lernprozesse); (2) eine bestimmte auslösende Situation; (3) der Hintergrund einer der Erfindung förderlichen Umweltkonstellation. Alle drei Faktoren zerfallen wiederum in eine Vielzahl von Komponenten, unter denen folgende herausgehoben werden können: ad 1) Nestlé war eine stark fortschrittsorientierte Persönlichkeit mit einer streng rational-naturwissenschaftlich geprägten Weltanschauung. Zeit seines unternehmerischen Wirkens zeichnete ihn die Bereitschaft aus, sich auf neue Wissens- und Produktionsgebiete einzulassen. Der gelernte Apotheker, der keine Universität besucht hatte, vertiefte sein chemisch-pharmazeutisches Wissen durch sein starkes Interesse an den Erkenntnissen der zeitgenössischen Chemie, vor allem an den Theorien, Methoden und Forschungen des bekannten deutschen Chemikers Justus von Liebig. Nestlé richtete sich 1849 ein eigenes chemisches Labor ein. ad 2) Nach einem abgewendeten finanziellen Ruin in der Wirtschaftskrise von 1857 schien Henri Nestlé zu Anfang der sechziger Jahre mit dem Abgang seines finanzkräftigen Teilhabers Keppel und dem absehbaren Wegfall eines seiner beiden Hauptgeschäftszweige (Lieferung von Flüssiggas an die Gemeinde Vevey) erneut schweren Zeiten entgegenzusehen. Die Erfindung des Kindermehls resultierte aus einem längeren Suchprozess nach einer neuen Erwerbsmöglichkeit. ad 3) Von den vielen Umweltfaktoren, die Nestlé für das Thema Kinderernährung erst sensibilisierten und den Erfolg seines Kindermehls auf dem Markt später begünstigten, können genannt werden die noch junge wissenschaftliche Beschäftigung mit Ernährung und Gesundheit (die von Nestlé verfolgten Forschungen Liebigs waren hier wegbereitend), die hohe Säuglingssterblichkeit, das verbreitete Nichtstillen, die veränderten Lebensbedingungen von Arbeiterschaft und Stadtbevölkerung (neue Zeitökonomie), aber auch der Anstieg der Konsumentenzahl und der Kaufkraft durch Industrialisierung, Bevölkerungswachstum und Verstädterung. Zum Pionierunternehmer hätte es Nestlé mit seiner Erfindung und den einen Markterfolg begünstigenden Umweltfaktoren allein aber nicht gereicht. Erst seine Entwicklung von einem zunächst «ausgeprägt produkt- und produktionsorientierten zum marktorientierten Unternehmer» (128) ermöglichte Nestlé nach 1867 die erfolgreiche Vermarktung seines Kindermehls, eines der ersten modernen Markenartikel der Schweiz. Auf der Folie seines Ansatzes ist Albert Pfiffner eine plausible Darstellung und Erklärung von Nestlés Handeln und Leben gelungen. Da in dem von ihm verwendeten Konzept der Lernprozesse den Umweltfaktoren eine grosse Bedeutung zukommt, hat Pfiffner durchgehend - vielfach nur kurze - Skizzen derjenigen Bereiche der zeitgenössischen Welt in seine Darstellung aufgenommen, die Henri Nestlés Handeln und Entscheidungen beeinflusst haben (Skizzen zum Aufkommen städtischer Wasserversorgungs- und Beleuchtungssysteme, zum Ammenwesen, zu Ernährungsgewohnheiten etc.). Dies vergrössert vordringlich das erklärende Potential seiner Untersuchung, trägt darüberhinaus aber auch zur Erhöhung des Lesevergnügens bei. Gerade in diesem liegt schliesslich eine Qualität der Publikation, die an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben darf: Albert Pfiffners Dissertation ist eine kompakte, spannende und kurzweilige Studie zur Schweizer Wirtschaftsgeschichte. Henry Muchenberger (Basel) Traverse 1995/2 (137-139)