Wo ist der Frieden? Wo ist die Demokratie?
Der palästinensische Witz: Kritik, Selbstkritik und Überlebenshilfe
Broschur
2001. 159 Seiten
ISBN 978-3-0340-0536-4
CHF 28.00 / EUR 16.00 
  • Kurztext
  • Autor/in
  • Einblick
  • In den Medien
Meint ein Palästinenser: «Das verstehe ich nicht. Die Israelis behaupten, ausschliesslich auf unsere Füsse zu schiessen ­ und trotzdem treffen sie immer den Kopf.» Sagt sein Freund: «Wir Palästinenser sind eben ein Volk, das auf dem Kopf geht.»
Es gibt kaum einen kurzweiligeren Weg, als mit Hilfe von Witzen und Legenden ein Volk und dessen Geschichte kennen zu lernen. Sie beleuchten die Gemütslage und illustrieren, was die Leute beschäftigt, worauf sie hoffen und wovor sie sich fürchten.
Palästinenser pflegen seit Jahrzehnten eine reiche Witzkultur. Ihr Humor, im Westen kaum bekannt, nimmt jede neue politische Entwicklung aufs Korn. Sharif Kanaana sammelt seit drei Jahrzehnten Witze, die in der Westbank und im Gazastreifen zirkulieren. Aus diesem reichen Fundus haben er und Pierre Heumann eine Auswahl getroffen, die sie nach Themen geordnet in einen historischen Zusammenhang stellen. Ihre Analyse des palästinensischen Humors führt zu neuen Einsichten. So schildern sich die Palästinenser vor der ersten Intifada selbstkritisch als ewige Verlierer, während des Aufstandes rühmen sie sich übermütig als wackere Helden, während des Golfkriegs identifizieren sie sich grosstuerisch mit Saddam Hussein, und später zirkulieren giftige Witze über Jassir Arafat, sein Regime und dessen gefürchtete Geheimdienste. In den vergangenen Monaten dominiert der schwarze Intifada-Humor. Er zeigt, wie wenig Hoffnung sich die Palästinenser auf einen guten Ausgang ihres Kampfes machen.
Nicht nur der israelisch-palästinensische Konflikt wird aus der Perspektive des Humors beleuchtet. Die Witze zeigen auch, was die Bevölkerung in den Flüchtlingslagern über die Städter denkt oder wie das Volk die palästinensischen Polizisten beurteilt. Ebenfalls scharf beobachtet werden vom Volksmund die Rolle der Frauen, der Hamas-Aktivisten sowie der Selbstmordattentäter.

Sharif Kanaana ist Ethnologieprofessor an der Bir-Zeit-Universität. Er ist Herausgeber einer Sammlung palästinensischer Volksmärchen. Für sein Gesamtwerk erhielt er 1999 den «Price of Palestine».


Pierre Heumann ist seit 1993 Nahostkorrespondent der «Weltwoche» und hat Palästina intensiv bereist. Er ist Autor von «Israel entstand in Basel. Die phantastische Geschichte einer Vision».

Textauszug
Korruption
Wie üblich sitzt Arafat nach Mitternacht mit seinen Ministern und Mitarbeitern im Büro. Da klingelt das Telefon. Seine Frau Suha, die allein im Haus ist, hat Geräusche gehört: «Diebe sind bei uns eingebrochen», sagt sie aufgeregt, «komm schnell nach Hause!»
Doch Arafat beruhigt sie: «Du musst dich getäuscht haben, meine liebe Suha, denn alle Diebe sitzen bei mir im Büro.»

Unfähige Sicherheitskräfte
Wie wählt man bei uns Polizisten aus?
Man versammelt alle Kandidaten in einem Raum und stellt ihnen leichte Fragen. Wer sie nicht beantworten kann, wird Polizist.

Al-Aksa-Intifada
Ein junger Intifadakämpfer verlangt von seinem Vater zwei Schekel, um mit dem Bus zur Konfrontation mit den Israelis zu fahren: Den einen benötige er für die Hinfahrt, den anderen für die Rückfahrt. Meint der Vater: «Sohn, ich gebe dir nur einen Schekel für die Hinfahrt. Den zweiten brauchst du nicht. Du kommst bestimmt im Sanitätsauto zurück.»

Besprechungen
Der politische Humor der Palästinenser Anders als im Sowjetreich müssen politische Witze unter Palästinensern nicht als Ventil herhalten, um Verstand und Intellekt zu bewahren, und sie müssen sich auch nicht verschwiegen geben wie der Flüsterwitz im Dritten Reich. Der palästinensische Witz interpretiert die schwierige Alltagssituation unter israelischer Besetzung indes viel diffiziler und feinsinniger, als es sonst geschieht - und so lassen sich an ihm besonders gut die Stimmungsschwankungen erfassen, die das palästinensische Volk in seinem wechselhaften politischen Geschick seit 1948 ergriffen haben. Diese zeitgeschichtliche, dokumentarische Note ist es, die Sharif Kanaana, Ethnologe an der Bir-Zeit-Universität, und Pierre Heumann, Nahostkorrespondent der «Weltwoche», dazu bewogen hat, eine Zusammenstellung von mehr als 200 politischen Witzen aus Palästina zu präsentieren. Denn dem Volksmund entnommene Einschätzungen und Erwartungen vermitteln Mentalität und Befindlichkeit zuweilen treffender über Grenzen hinweg als manch gelehrte Studie. Chronologisch geleitet und mit präzisen Erläuterungen der Autoren zu den angesprochenen Ereignissen versehen, «lernt» der Leser aus einer anderen Perspektive als üblich über die komplizierten Verhältnisse im Nahen Osten - und er staunt über einen speziell vermischten Humor, der bisweilen zynisch-karikierender ist als anderswo, mitunter auch resignativ oder aber einfach nur launisch daherkommen kann. Aufs Korn genommen werden sowohl die Politik der USA und die israelischen Soldaten als auch die Tüchtigkeit der eigenen, palästinensischen Offiziere und der Regierungsstil Arafats. Makaber bis befremdlich muten die Witze dagegen mitunter an, wenn es um die Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen geht oder um die Intelligenz von Selbstmordattentätern. Geradezu bitter aber können sie werden, wo auf Missstände in der Autonomieverwaltung gezeigt wird und auf Niederlagen sowie Ermüdungserscheinungen im Widerstand gegen die israelischen Besetzer. Alles in allem eine reiche Ladung in einem so kleinen Buch. Anette Bingemer Sharif Kanaana, Pierre Heumann: Wo ist der Frieden? Wo ist die Demokratie? Der palästinensische Witz: Kritik, Selbstkritik und Überlebenshilfe. Chronos-Verlag, Zürich 2001. 155 S., Fr. 28.-. Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Dienstag, 19.02.2002 Nr.41 16 Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ. (c) 1993-2000 Neue Zürcher Zeitung AG

In Zürich getroffen Sharif Kanaana - Märchenprofessor jbi. Nach Zürich ist Sharif Kanaana gekommen, weil er Palästinenser ist und Volkserzählungen seines Volkes sammelt und erforscht. Das Thema hat das Interesse von Freunden geweckt, die in verschiedenen Schweizer Städten Vorträge organisiert haben. Zürich war dieser Tage die letzte Etappe in der Tournee des ehemaligen Ethnologieprofessors an der Universität von Birzeit im Westjordanland. Kanaana ist überrascht vom Interesse des Publikums. «Die Leute in Europa scheinen zur Kenntnis zu nehmen, dass die Palästinenser nicht ein Haufen Terroristen sind, sondern normale Menschen mit Sorgen und Freuden, Hoffnungen und Enttäuschungen.» Die Volksliteratur, vom Märchen bis zum Witz, sagt Kanaana, sei ein treffliches Mittel, die Überlieferungen, den Alltag und die Sehnsüchte der Menschen kennen zu lernen. Märchen und Legenden folgten zeitlosen Mustern, die sich in allen Zeiten und Gegenden gleichen und auch an der Oberfläche der erzählten Details nur langsam mit der Zeit gehen. Es seien Grossmütter, Mütter und Tanten, die den Kindern der Grossfamilie abends die alten Geschichten erzählten, erklärt der Ethnologe, und deshalb gewährten die Erzählungen einen einmaligen Einblick in die Welt der Frauen, die in den muslimischen Gesellschaften ja von der Öffentlichkeit abgeschlossen sei. Viele Geschichten bieten laut dem Märchenforscher sowohl den Frauen selbst wie den Kindern eine Identifikationsebene. Sei zum Beispiel der Streit zwischen Geschwistern das Thema einer Geschichte, so verberge sich dahinter der Wettbewerb der verschiedenen Gattinnen um die Aufmerksamkeit und die Zuneigung des Herrn des Hauses. Kanaana ist allerdings besorgt darüber, dass der Schatz der Volkserzählungen vergessen geht. Das Fernsehen habe die abendliche Erzählrunde in den Frauenräumen auseinander getrieben und die modernen Mütter erzählten ihren Kindern Gutenachtgeschichten aus Kinderbüchern mit westlichen Märchen, klagt er. Auf die Frage, welche Bedeutung die Geschichten aus der bei uns so beliebten Märchensammlung «Tausendundeine Nacht» in den palästinensischen Erzählrunden hätten, winkt Kanaana ab. «Das sind erotische oder Abenteuergeschichten, sie entstammen der Welt der Männer und gelten gemeinhin als frivol. Der Westen nährt mit den Erzählungen aus ÐTausendundeiner Nachtð gleichzeitig sein Unverständnis und seine Faszination für den Orient. Aber den Frauen in den palästinensischen Dörfern kommen sie dumm vor, weil sie nichts mit deren Erfahrungen zu tun haben.» Die palästinensischen Witze, die Kanaana seit fast 20 Jahren sammelt, stellen wohl die intensivste Auseinandersetzung des Volksmundes mit der unmittelbaren Aktualität dar. Mit dem Schweizer Journalisten Pierre Heumann hat Kanaana Kostproben aus seiner Sammlung auf Deutsch herausgegeben.* «In Palästina gibt es jeden Tag einen neuen Witz», stellt der Ethnologe fest und erzählt den neusten, den er am Tag seiner Abreise in die Schweiz noch gehört hat. Zu seinem Verständnis muss der Professor dem westlichen Zuhörer aber so viele Erklärungen abgeben, dass hier der Platz dafür fehlt. «In jedem Witz gibt es einen Gewinner und einen Verlierer», stellt Kanaana fest. «In unseren Witzen sind wir die Verlierer und die Israeli die Gewinner, wie das ja in der Wirklichkeit auch ist.» Das zeige auch, wie tief die Moral der Bevölkerung heute sei. Es sei aber nicht immer so gewesen, fügt der palästinensische Witzesammler hinzu. Während der ersten Intifada, da sei in den Witzen die Stimmung umgeschlagen, und plötzlich seien die palästinensischen Buben, die mit den Steinen auf die Panzer losgingen, schneller und schlauer als die israelischen Soldaten gewesen. Die heutigen Witze zeugten aber nur noch von Hoffnungslosigkeit und der Enttäuschung der Leute über die Unfähigkeit und die Korruption ihrer Führer. * Sharif Kanaana, Pierre Heumann: Wo ist der Frieden? Wo ist die Demokratie? Chronos-Verlag, Zürich 2001. Neue Zürcher Zeitung ZÜRICH UND REGION Dienstag, 30.08.2005 Nr.201 53 Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der NZZ (c) 1993-2006 Neue Zürcher Zeitung AG