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Unterbrochene Tradition
Die Anfänge der Soziologie in der Schweiz
Broschur
1995. 372 Seiten
ISBN 978-3-905311-80-8
CHF 48.00 / EUR 28.00 
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Die Soziologie hat sich in der Schweiz nicht erst in den späten sechziger Jahren, wie allgemein vermutet, durchgesetzt. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg zählte sie zum festen Bestand des Lehrangebots an den Universitäten in Genf, Lausanne, Bern und Zürich und zeichnete sich sowohl bei den Lehrenden wie den Studierenden durch Internationalität aus. Im Gefolge der Auseinandersetzungen um die grundlegenden Prinzipien gesellschaftlicher Gestaltung hatten sich wichtige Entscheidungsträger des Bundesstaates für die universitäre Vertretung der Disziplin eingesetzt. Die enge Verbindung zwischen Sozialtheorie und bürgerlicher Reformpraxis erwies sich für die Soziologie in ihrer Entstehungsphase von entscheidender Bedeutung, während sich in Freiburg die Soziologie im Kampf gegen Modernismus, Liberalismus und Sozialismus im Rahmen der Pastoraltheologie etablierte.
In vielen Einzelfallanalysen, die auch zeigen, dass nicht selten Intrigen das Fach Soziologie als ganzes desavouierten, wird hier Aufstieg und Niedergang der Frühphase der Soziologie in der Schweiz in lebendiger Weise nachgezeichnet. Ebenso leistet das Buch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Sozialwissenschaften und zur Wissenssoziologie.

«Zürcher zeigt auf, dass um die Jahrhundertwende eine Ðim internationalen Vergleich ausserordentlich frühe, nahezu flächendeckende Vertretung der Soziologie in der Schweizð stattgefunden hat. [...] Weshalb nur konnte sie sich, anders als im übrigen Europa, hier nicht verankern, brach ihre Tradition, ausser in Genf, bis in die späten sechziger Jahre ab?»
Die WochenZeitung
Pressestimmen
«Zürcher zeigt auf, dass um die Jahrhundertwende eine ‹im internationalen Vergleich ausserordentlich frühe, nahezu flächendeckende Vertretung der Soziologie in der Schweiz› stattgefunden hat. […] Weshalb nur konnte sie sich, anders als im übrigen Europa, hier nicht verankern, brach ihre Tradition, ausser in Genf, bis in die späten sechziger Jahre ab?» Die WochenZeitung

Besprechungen
Das historische Buch Liberalismus und Soziologie in der Schweiz Markus Zürchers Analyse einer «unterbrochenen Tradition» Der Soziologie kann ihre Geschichte nicht gleichgültig sein, und sei es nur deshalb, weil sie in wissenschaftshistorischer Selbstbesinnung manche ihrer Diagnosen sich selbst stellen kann: die Angewiesenheit von Wissenschaft - auch und gerade ihrer immer prekären Autonomie - auf eine «Trägerschaft» gesellschaftlicher Interessen. Markus Zürchers historische Analyse der «An fänge der Soziologie in der Schweiz» kann so mit wissenssoziologischem Anspruch auftreten. Und was sie aufzudecken beansprucht, ist eine weit vor dem Institutionalisierungsschub der sechziger Jahre liegende Vorgeschichte der Soziologie in der Schweiz. Ausserordentlich früh schon, noch vor der Jahrhundertwende, wurde Soziologie als solche an Schweizer Universitäten gelehrt. Überraschend ist nun, was Zürcher über ihre Trägerschaft ausmacht. Weder sind es hier gesell schaftspolitisch revolutionär gesinnte Kräfte, noch ist es der antiaufklärerische Geist der Reak tion, denen beiden die Soziologie nach landläufi gem Verständnis ihre Entstehung verdankt: Zür cher deckt ein frühes Kooperationsverhältnis von Soziologie und «progressivem Liberalismus» auf. Louis Wuarin in Genf, Maurice Millioud in Lau sanne, Ludwig Stein in Bern, Abroteles Eleuthe ropulos in Zürich stehen für eine Soziologie, die in ihren Versuchen, die lautstark sich stellende «sociale Frage» zu beantworten, die Problem lösungskapazitäten von Marktwirtschaft und libe raler Demokratie nicht unterschätzt. Ein goldenes Zeitalter Zürcher zeichnet die Geschichte dieser Sozio logie in systematisch gebündelten Einzelfalldar stellungen unter Einschluss selektiver Werküber sichten nach: Es entsteht das Bild eines glück lichen Zusammengehens einer radikalliberalen Politik, die die Institutionalisierung der Sozio logie trägt, mit einer Wissenschaft, die im Gegen zug die Politik mit rationaler Legitimation auszu statten verspricht. Diese «frühe Blüte» der Sozio logie in der Schweiz reifte denn auch zu einer be trächtlichen Leistung der beteiligten Soziologen in internationaler Publikations- und Vereinsaktivi tät. Diese wirkte gewinnbringend auf die liberale Politik zurück im Sinne eines symbiotischen Ver hältnisses, welches Zürcher etwa anhand der frü hen fortschrittlichen Arbeiterschutzgesetzgebung der Schweiz und der Bedeutung der Schweiz in der internationalen Friedensbewegung aufdeckt. Doch dieser liberalen «aurea aetas» der Sozio logie in der Schweiz sollte nur eine kurze Frist be schieden sein. Für Zürchers Diagnose ihres Endes (eben des «Bruches in der Tradition», welcher der Studie ihren Titel gibt) ist Hans Ulrich Josts nicht unumstrittene These vom Auftreten der schweize rischen «reaktionären Avantgarde» zu Anfang dieses Jahrhunderts wichtig. Die Zwischenkriegs zeit - in die in Deutschland, aber auch in Frank reich wesentliche Entwicklungsschübe der Sozio logie und ihrer universitären Institutionalisierung fielen - brachte der Soziologie in der Schweiz Sta gnation, ja Schwund. Ludwig Stein wurde unter nicht restlos geklärten Umständen zur Demission gezwungen; Abroteles Eleutheropulos misslang wiederholt der Versuch, die Einrichtung eines Lehrstuhls für Soziologie in Zürich anzuregen; schliesslich reiste er nach Griechenland aus. Die politische Kultur hatte sich gewandelt. Zür cher sieht einen Konservatismus aufkommen, der mit dem Hinweis auf eine allgemeine «Weltent täuschung » des Bürgertums allerdings kaum hin reichend charakterisiert sein dürfte, eine Geistes haltung, die mit der kosmopolitischen liberalen Tradition im Namen eines Traditionalismus bricht, der Traditionen nötigenfalls zu erfinden bereit ist (Gonzague de Reynolds). «Sonderfall bewusstsein» und «Verschweizerung der Univer sitäten» sind zwei Aspekte desselben Phänomens: Im engen Raum, so liesse sich Zürchers Darstel lung zitatweise übertiteln, verengt sich der Sinn - schliesslich auch jener, der sich der freie nennt. Der Soziologie kommt ihre Trägerschicht abhan den, und das Klima wird «antisoziologisch»; Konkurrenzunternehmen wie die Rassenanthro pologie haben Aufschwung. Dies alles gibt den Hintergrund der endzeit gestimmten Szene ab, mit der Zürcher seine Untersuchung beschliesst: Nachdem René König, dessen Werk bis heute von grösster Bedeutung ist, mit seiner Gutachtertätigkeit zur (nicht eben libe ralen) Familienschutzinitiative noch einmal der liberalen Politik eine wissenschaftliche Grundlage geboten hatte, wird ihm auf Grund kaum sach haltiger Vorwürfe die Lehrbefugnis als Dozent der Universität Zürich entzogen. Da ist König allerdings schon längst Ordinarius - in Köln. Eine gewisse Stilisierung Die Darstellung der «unterbrochenen Tradi tion» der Soziologie besticht durch die Akribie, mit der Zürcher selbst manchen dunkeln Winkel von Fakultätssitzungsprotokollen ausleuchtet, so wie die bisweilen spannende Darstellung der Be funde. Und die Aufdeckung der frühen Verbin dung von Soziologie und politischem Liberalis mus ist ein für historische Selbstbesinnung des Faches sicherlich hochbedeutsames Ergebnis, auch wenn hier eine gewisse Stilisierung nicht zu übersehen ist. Als die Tradition der Soziologie in der Schweiz gewinnt Zürcher seinen Gegenstand nur, indem er die Breite des präsentierten Mate rials interpretativ verengt. Nicht nur Diskontinui tät, auch Kontinuität und schliesslich auch Vielfalt kennzeichnen, so Zürcher selbst, die frühe Ge schichte der Soziologie in der Schweiz. Selbst wenn Zürcher die bruchlose Entwicklung in Genf als «gallo-anglikanisch» und jene in Basel (nach nur eben andeutender Schilderung der Positionen von Hermann Schmalenbach und Edgar Salin; Heinrich Popitz mutiert bei Zürcher zu Hermann Popitz) als «deutschen» Entwick lungsgang quasi auslagert, verbleiben (nebst dem gänzlich unbeachteten Neuenburg, wo immerhin kein Geringerer als Jean Piaget eine Zeitlang Soziologie lehrte) doch noch die Universitäten von Lausanne und Freiburg. In Lausanne lehrte der vielleicht einzige eigentliche Fachvertreter des betreffenden Raum- und Zeitausschnittes, der noch heute auf allgemeine Bekanntheit zählen darf: Vilfredo Pareto. Äusserte schon Pareto selbst sein Misstrauen gegenüber der Demokratie im Ruf nach «starken Eliten», so ruhte sein Schüler und Nachfolger Pasquale Boninsegni nicht, bis er 1937 Mussolini einen Ehrendoktor der Universität Lausanne ver schafft hatte: als - es möchte einen am Fache irre werden lassen - «réalisateur d'une conception sociologique originale»! Ähnlich geriet auch der in Basel lehrende Roberto Michels in diesen - wie Zürcher sagt - «Bann des Faschismus». Nochmals ganz anders die Motivationslage in Freiburg: Ausführlich schildert Zürcher, wie dort in enger Verbindung mit der katholischen Sozial bewegung eine an der Kirche als «societas per fecta» orientierte Soziologie institutionalisiert wurde, die für die katholische Soziallehre von fundamentaler Bedeutung war. Diese Soziologie tritt dann, etwa in Person von Jacob Lorenz, in Verbindung mit jenem Geist dem der Traditions bruch angelastet wird. So macht das Buch deut licher, als sein Autor es selbst sieht: die Soziologie hat viele Traditionen, sie speist sich aus vielen Quellen; und, so wird man beifügen müssen, nicht immer waren es die reinsten, die auch am reichlichsten flossen. Hans Bernhard Schmid Markus Zürcher: Unterbrochene Tradition. Die Anfänge der Soziologie in der Schweiz. Chronos-Verlag, Zürich 1995. 372 S., Fr. 43.-. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ. Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 28.08.1996 Nr. 199 44