Das historische Buch
Liberalismus und Soziologie in der Schweiz
Markus Zürchers Analyse einer «unterbrochenen Tradition»
Der Soziologie kann ihre Geschichte nicht gleichgültig sein, und sei es nur
deshalb, weil sie in wissenschaftshistorischer Selbstbesinnung manche ihrer
Diagnosen sich selbst stellen kann: die Angewiesenheit von Wissenschaft -
auch und gerade ihrer immer prekären Autonomie - auf eine «Trägerschaft»
gesellschaftlicher Interessen. Markus Zürchers historische Analyse der «An
fänge der Soziologie in der Schweiz» kann so mit wissenssoziologischem
Anspruch auftreten. Und was sie aufzudecken beansprucht, ist eine weit vor
dem Institutionalisierungsschub der sechziger Jahre liegende Vorgeschichte
der Soziologie in der Schweiz. Ausserordentlich früh schon, noch vor der
Jahrhundertwende, wurde Soziologie als solche an Schweizer Universitäten
gelehrt.
Überraschend ist nun, was Zürcher über ihre Trägerschaft ausmacht. Weder
sind es hier gesell schaftspolitisch revolutionär gesinnte Kräfte, noch ist
es der antiaufklärerische Geist der Reak tion, denen beiden die Soziologie
nach landläufi gem Verständnis ihre Entstehung verdankt: Zür cher deckt ein
frühes Kooperationsverhältnis von Soziologie und «progressivem Liberalismus»
auf. Louis Wuarin in Genf, Maurice Millioud in Lau sanne, Ludwig Stein in
Bern, Abroteles Eleuthe ropulos in Zürich stehen für eine Soziologie, die in
ihren Versuchen, die lautstark sich stellende «sociale Frage» zu
beantworten, die Problem lösungskapazitäten von Marktwirtschaft und libe
raler Demokratie nicht unterschätzt.
Ein goldenes Zeitalter
Zürcher zeichnet die Geschichte dieser Sozio logie in systematisch
gebündelten Einzelfalldar stellungen unter Einschluss selektiver Werküber
sichten nach: Es entsteht das Bild eines glück lichen Zusammengehens einer
radikalliberalen Politik, die die Institutionalisierung der Sozio logie
trägt, mit einer Wissenschaft, die im Gegen zug die Politik mit rationaler
Legitimation auszu statten verspricht. Diese «frühe Blüte» der Sozio logie
in der Schweiz reifte denn auch zu einer be trächtlichen Leistung der
beteiligten Soziologen in internationaler Publikations- und Vereinsaktivi
tät. Diese wirkte gewinnbringend auf die liberale Politik zurück im Sinne
eines symbiotischen Ver hältnisses, welches Zürcher etwa anhand der frü hen
fortschrittlichen Arbeiterschutzgesetzgebung der Schweiz und der Bedeutung
der Schweiz in der internationalen Friedensbewegung aufdeckt.
Doch dieser liberalen «aurea aetas» der Sozio logie in der Schweiz sollte
nur eine kurze Frist be schieden sein. Für Zürchers Diagnose ihres Endes
(eben des «Bruches in der Tradition», welcher der Studie ihren Titel gibt)
ist Hans Ulrich Josts nicht unumstrittene These vom Auftreten der schweize
rischen «reaktionären Avantgarde» zu Anfang dieses Jahrhunderts wichtig. Die
Zwischenkriegs zeit - in die in Deutschland, aber auch in Frank reich
wesentliche Entwicklungsschübe der Sozio logie und ihrer universitären
Institutionalisierung fielen - brachte der Soziologie in der Schweiz Sta
gnation, ja Schwund. Ludwig Stein wurde unter nicht restlos geklärten
Umständen zur Demission gezwungen; Abroteles Eleutheropulos misslang
wiederholt der Versuch, die Einrichtung eines Lehrstuhls für Soziologie in
Zürich anzuregen; schliesslich reiste er nach Griechenland aus.
Die politische Kultur hatte sich gewandelt. Zür cher sieht einen
Konservatismus aufkommen, der mit dem Hinweis auf eine allgemeine «Weltent
täuschung » des Bürgertums allerdings kaum hin reichend charakterisiert sein
dürfte, eine Geistes haltung, die mit der kosmopolitischen liberalen
Tradition im Namen eines Traditionalismus bricht, der Traditionen
nötigenfalls zu erfinden bereit ist (Gonzague de Reynolds). «Sonderfall
bewusstsein» und «Verschweizerung der Univer sitäten» sind zwei Aspekte
desselben Phänomens: Im engen Raum, so liesse sich Zürchers Darstel lung
zitatweise übertiteln, verengt sich der Sinn - schliesslich auch jener, der
sich der freie nennt. Der Soziologie kommt ihre Trägerschicht abhan den, und
das Klima wird «antisoziologisch»; Konkurrenzunternehmen wie die
Rassenanthro pologie haben Aufschwung.
Dies alles gibt den Hintergrund der endzeit gestimmten Szene ab, mit der
Zürcher seine Untersuchung beschliesst: Nachdem René König, dessen Werk bis
heute von grösster Bedeutung ist, mit seiner Gutachtertätigkeit zur (nicht
eben libe ralen) Familienschutzinitiative noch einmal der liberalen Politik
eine wissenschaftliche Grundlage geboten hatte, wird ihm auf Grund kaum sach
haltiger Vorwürfe die Lehrbefugnis als Dozent der Universität Zürich
entzogen. Da ist König allerdings schon längst Ordinarius - in Köln.
Eine gewisse Stilisierung
Die Darstellung der «unterbrochenen Tradi tion» der Soziologie besticht
durch die Akribie, mit der Zürcher selbst manchen dunkeln Winkel von
Fakultätssitzungsprotokollen ausleuchtet, so wie die bisweilen spannende
Darstellung der Be funde. Und die Aufdeckung der frühen Verbin dung von
Soziologie und politischem Liberalis mus ist ein für historische
Selbstbesinnung des Faches sicherlich hochbedeutsames Ergebnis, auch wenn
hier eine gewisse Stilisierung nicht zu übersehen ist. Als die Tradition der
Soziologie in der Schweiz gewinnt Zürcher seinen Gegenstand nur, indem er
die Breite des präsentierten Mate rials interpretativ verengt. Nicht nur
Diskontinui tät, auch Kontinuität und schliesslich auch Vielfalt
kennzeichnen, so Zürcher selbst, die frühe Ge schichte der Soziologie in der
Schweiz.
Selbst wenn Zürcher die bruchlose Entwicklung in Genf als
«gallo-anglikanisch» und jene in Basel (nach nur eben andeutender
Schilderung der Positionen von Hermann Schmalenbach und Edgar Salin;
Heinrich Popitz mutiert bei Zürcher zu Hermann Popitz) als «deutschen»
Entwick lungsgang quasi auslagert, verbleiben (nebst dem gänzlich
unbeachteten Neuenburg, wo immerhin kein Geringerer als Jean Piaget eine
Zeitlang Soziologie lehrte) doch noch die Universitäten von Lausanne und
Freiburg. In Lausanne lehrte der vielleicht einzige eigentliche
Fachvertreter des betreffenden Raum- und Zeitausschnittes, der noch heute
auf allgemeine Bekanntheit zählen darf: Vilfredo Pareto.
Äusserte schon Pareto selbst sein Misstrauen gegenüber der Demokratie im Ruf
nach «starken Eliten», so ruhte sein Schüler und Nachfolger Pasquale
Boninsegni nicht, bis er 1937 Mussolini einen Ehrendoktor der Universität
Lausanne ver schafft hatte: als - es möchte einen am Fache irre werden
lassen - «réalisateur d'une conception sociologique originale»! Ähnlich
geriet auch der in Basel lehrende Roberto Michels in diesen - wie Zürcher
sagt - «Bann des Faschismus».
Nochmals ganz anders die Motivationslage in Freiburg: Ausführlich schildert
Zürcher, wie dort in enger Verbindung mit der katholischen Sozial bewegung
eine an der Kirche als «societas per fecta» orientierte Soziologie
institutionalisiert wurde, die für die katholische Soziallehre von
fundamentaler Bedeutung war. Diese Soziologie tritt dann, etwa in Person von
Jacob Lorenz, in Verbindung mit jenem Geist dem der Traditions bruch
angelastet wird. So macht das Buch deut licher, als sein Autor es selbst
sieht: die Soziologie hat viele Traditionen, sie speist sich aus vielen
Quellen; und, so wird man beifügen müssen, nicht immer waren es die
reinsten, die auch am reichlichsten flossen.
Hans Bernhard Schmid
Markus Zürcher: Unterbrochene Tradition. Die Anfänge der Soziologie in der
Schweiz. Chronos-Verlag, Zürich 1995. 372 S., Fr. 43.-.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 28.08.1996 Nr. 199 44