Germanistik und Politik

Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus

Broschur
1997. 2. Auflage 1997.
342 Seiten
ISBN 978-3-905312-04-1
CHF 44.00 / EUR 24.50 
  • Kurztext
  • Autor/in
  • In den Medien

Die Schweizer Germanistik boomte nach 1945. Emil Staigers geschichtsabstinente und apolitische «Stilkritik» avancierte zur führenden Interpretationsmethode im deutschsprachigen Raum; ebenso löste Walter Muschgs «Tragische Literaturgeschichte» Debatten aus. Was aber tat sich zuvor auf dem literaturwissenschaftlichen Feld? Wie verhielten sich die professionellen Interpreten des deutschen Geisteslebens, als im Dritten Reich Bücher verbrannt und Fachkollegen vertrieben wurden?
Die Schweizer Literaturwissenschaftler verteidigten ein fachliches Schongebiet, das zwischen die Fronten, in eine Pufferzone zwischen nationalsozialistischer Kulturpolitik, antifaschistischer Exilliteratur und zunehmend germanophob gestimmter einheimischer Bevölkerung geriet.
Der Propaganda-Apparat des Dritten Reiches durfte bis 1937 verschiedentlich auf die Mitarbeit der Literaturprofessoren Emil Ermatinger, Robert Faesi und Gottfried Bohnenblust zählen. Auch Emil Staigers Karriereverlauf war eng mit der NS-Epoche verzahnt. Ganz anders der Basler Ordinarius Walter Muschg: Er setzte sich unermüdlich für die verfemten Autoren Döblin, Jahnn und Barlach ein. Und die beiden jüdischen Berner Literaturprofessoren Fritz Strich und Jonas Fränkel? Strich verstummte, Fränkel wurde zum Verstummen gebracht.
Die vorliegende Studie arbeitet erstmals umfassend die Geschichte der Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus auf.

Pressestimmen

«Julian Schütts Buch über die Schweizer Germanistik zur Zeit des Nationalsozialismus stellt einen ungemein erhellenden Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte unseres Landes dar.»
Aargauer Zeitung


«Schütts Forschungen sind vor allem durch die Fülle der Detailergebnisse aufschlussreich; diese lassen sich nicht ohne weiteres verallgemeinern. Eine Bilanz lässt sich jedoch zweifellos ziehen: Es gelang der Schweizer Literaturwissenschaft 1933 bis 1945 nicht, die Exilkultur zu integrieren; die Belege für Angst, Anpassertum und ideologische Verblendung sind häufiger als jene für Nüchternheit, Hilfsbereitschaft und Mut.»
Neue Zürcher Zeitung


«Gegenwärtig erregt in der Schweiz die Dissertation von Julian Schütt Aufsehen. Sie prüft, wie Schweizer Literaturwissenschaftler sich zum Nationalsozialismus im benachbarten Deutschland verhalten haben. Was man erfährt, bedrückt und fügt sich in das neue Bild, das heute von der damaligen ökonomischen und politischen Verflechtung der Schweiz entsteht.»
Frankfurter Allgemeine Zeitung


Besprechungen

Anpassung, Abschottung, Widerstand

Die Schweizer Germanistik und der Nationalsozialismus

Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um nachrichtenlose Vermögen und
geleistete oder unterlassene Flüchtlingshilfe zeigen, dass die Rolle, die
die Schweiz in den Jahren 1933-1945 gespielt hat, noch längst nicht
erschöpfend analysiert ist. Eine bemerkenswerte Studie zu einem Teilaspekt
der Problematik legt der junge Germanist Julian Schütt vor. Die Geschichte
der Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus
ist sein Thema. Schütt erzählt sie auf der Basis akribischer Forschung, mit
solidem wissenschaftlichem Apparat und gleichwohl geradezu munter. Er
porträtiert die Schweizer Germanisten der Epoche anschaulich und schildert
ihre Haltung gegenüber dem Dritten Reich mit polemischer Verve.
Relativ einfach liegt der Fall bei der Gruppe um Adolf Frey, Robert Faesi,
Gottfried Bohnenblust und Otto von Greyerz. Sie traten bei aller
traditionsbedingten Deutschfreundlichkeit für die Neutralität der Schweiz
ein. Faesi, der weltläufige Grossbürger und wertkonservative Literat, der
mit Thomas Mann im Briefwechsel stand und sich keinen Auftritt als
Festredner entgehen liess, hatte zudem schon 1917 mit seinem «Füsilier Wipf»
einen Roman verfasst, der 1938 in der Verfilmung von Leopold Lindtberg zum
Inbegriff der geistigen Landesverteidigung werden sollte. - Einen
populistischen Patriotismus vertrat Fritz Ernst, der unermüdliche Prophet
der «Helvetia mediatrix». Seine Position trug ihm nicht nur eine erbitterte
Fehde mit Charles-Ferdinand Ramuz, sondern nach langem Warten doch noch
einen Lehrstuhl ein, der wohl ebenso die Gesinnung wie das essayistische
Werk des vergleichenden Literaturwissenschafters honorierte.

Karl Schmids Position

Von besonderem Interesse ist die Position Karl Schmids. 1939 stand der
32jährige vor der Entscheidung, Privatdozent zu werden oder einem Ruf in
den Generalstab zu folgen. Schmid entschied sich für die militärische
Laufbahn und erwies sich durch seine integre, senkrechte Haltung als
wesentliche Stütze der Sektion «Heer und Haus». Nüchterne Aufklärung über
die Erfordernisse der Landesverteidigung war hier seine Hauptaufgabe. 1943
wurde Schmid Literaturprofessor an der ETH Zürich; schon frühe Zeugnisse
belegen seine Distanz zu den «ästhetischen Wasserkünsten» des berühmten
Kollegen Emil Staiger an der benachbarten Universität.
Komplizierter liegt der Fall bei Emil Ermatinger (1873-1953), dem
akademischen Lehrer Staigers und Schmids. Der ehrgeizige Kleinstädter
suchte sich auch in Deutschland zu etablieren, drang aber mit seiner
Germanophilie nicht über Fachkreise hinaus. Während der dreissiger Jahre
liess er sich - wie auch Faesi und Bohnenblust - gern zu Festvorträgen und
Jubiläumsfeiern nach Deutschland einladen, ohne zu durchschauen, wie er von
der Propagandamaschinerie der Nazis instrumentalisiert wurde. Besonders
kompromittierend war ein Auftritt Ermatingers bei den «Deutschen Christen»
in Eisenach (Oktober 1937), welche in Hitler den «gottgesandten Führer»
sahen, zu «bedingungsloser Gefolgschaft» aufriefen und alle dissidenten
Strömungen erbittert bekämpften.
Ermatinger wurde in der nationalsozialistischen Presse für seine «mannhaften
Worte» gelobt, während Schweizer Zeitungen von politischer Blindheit
sprachen. Die Universität Zürich reagierte, indem sie Ermatinger 1938 dem
Anciennitätsprinzip zum Trotz nicht zum Rektor wählte. Das brachte den
Professor keineswegs dazu, seine Position zu revidieren. Im gleichen Jahr
ergänzte er die dritte Auflage seines Werks «Das dichterische Kunstwerk» um
üble nazistische Passagen. Der deutsche Roman sei «durch jüdische
Schriftsteller mit sexuellen oder verdauungsphysiologischen Unflätigkeiten
aller Art beschmutzt worden», kann man da etwa - mit Hinweis auf Döblins
«Berlin Alexanderplatz» - lesen.
Das Zitat erinnert fatal an Emil Staigers drei Jahrzehnte später
formulierten Satz, die Gegenwartsliteratur wimmle «von Psychopathen, von
gemeingefährlichen Existenzen, von Scheusslichkeiten grossen Stils und
ausgeklügelten Perfidien», mit dem der Gelehrte 1966 ohne Not und sehr zum
eigenen Schaden den Zürcher Literaturstreit vom Zaum brach. Wie aber
verhielt sich der prominenteste Vertreter der textimmanenten Interpretation
in den dreissiger Jahren? - Schütt beschreibt das Mitwirken des damals
25jährigen Dozenten im «Gau Zürich» der Nationalen Front eingehend, ohne es
zu dämonisieren, und zeigt auch, dass der «zornige Erneuerungsgestus»
durchaus salonfähig war, zumal Staiger Distanz zu den kriminellen
Aktivitäten der Bewegung hielt, aber diese durch sein Mitmachen gleichsam
nobilitierte. In Staigers früher Schrift «Dichtung und Nation» (1933)
schlägt sich nach Schütt «Staigers frontenfaschistischer Elan eklatant
nieder». Nach dem erwähnten Zürcher Literaturstreit von seinem ehemaligen
Schüler Peter Szondi in einen brieflichen Disput über diesen Text
verwickelt, rang Staiger sich zu zaghafter Selbstkritik durch, blieb aber
bei der Einschätzung, der Nationalsozialismus sei bloss eine «extreme
Reaktion auf ein Extrem» (nämlich die Weimarer Republik) gewesen. Für
weitere Aufregung sorgte Staiger im Februar 1936 durch einen Brief an Thomas
Mann, dem er dessen Engagement für die Exilliteratur vorhielt; der Brief ist
in Thomas Manns Tagebuch als «durch Dummheit und Dreistigkeit sehr
unangenehm» vermerkt.
Es gab indes auch eine Schweizer Germanistik, die sich für die in
Deutschland verfemten Autoren engagierte. In erster Linie ist hier Walter
Muschg zu nennen, der vierschrötige Aussenseiter, der sich mit einer Arbeit
über Albrecht Schaeffers «Helianth» habilitiert hatte, der schon früh - und
gegen massive fachinterne Widerstände - Freud als Theoretiker für die
Literaturwissenschaft entdeckt und 1931 eine bahnbrechende Gotthelf-
Monographie vorgelegt hatte.
Muschg, ein spätexpressionistisch bewegter Eiferer, der sich politisch in
Duttweilers «Landesring der Unabhängigen» engagierte und 1939 Nationalrat
wurde, tat zur rechten Zeit das Richtige: Er setzte sich für Autoren wie
Döblin und Hans Henny Jahnn ein, half publizistisch und finanziell, wo er
konnte, und liess sich in seiner Hilfsbereitschaft selbst dann nicht
beirren, wenn sie ihm nicht die erhoffte Gegenliebe eintrug.
Diese Haltung blieb die Ausnahme. Viel Unrühmliches ereignete sich.
Hilferufe bedrängter Fachkollegen aus Deutschland blieben unbeantwortet.
Ermatinger verschob ein Habilitationsgesuch des hochbegabten Germanisten
Arnold Hirsch ad calendas graecas; dem angesehenen Gelehrten Werner Richter,
der sich kostenlos als Ordinarius zur Verfügung stellte, beschied der
Fachkollege Andreas Heusler, es sei nicht die Aufgabe der Basler
Universität, «jüdische und halbjüdische Flüchtlinge zu bergen». Allgemein
herrschte an den Schweizer Universitäten die Auffassung, das Boot sei voll,
und kaum ein Dozent mochte sich in Forschung und Lehre mit der deutschen
Exilliteratur befassen oder sich gar für sie einsetzen.
An der Universität Bern gab es allerdings zwei jüdische Dozenten: Fritz
Strich und Jonas Fränkel. Strich, bekannt als Stiltypologe, lieferte in
seinem Buch «Dichtung und Zivilisation» (1928) ungewollt Stichworte zu
deutschen Erwähltheitstopoi, die den Nazis zupass kamen; 1933-1945 zog er
sich in eine Art innere Emigration zurück und publizierte nichts mehr.

Jonas Fränkels Streitbarkeit

Ganz anders Jonas Fränkel (1879-1965), ein heller, polemischer Kopf, der
sich mit jedermann anlegte. Es ist ein besonderes Verdienst von Schütts
Studie, dass sie diesem streitbaren Gelehrten ein - keineswegs unkritisches
- Denkmal setzt. Fränkel stammte aus Krakau und kam um die Jahrhundertwende
in die Schweiz. Bald machte er sich als Herausgeber klassischer und
romantischer Texte einen Namen. Er gewann die Freundschaft Spittelers und
etablierte sich als Privatdozent, wurde jedoch - wahlweise wegen seiner
jüdischen Herkunft, seiner kargen Publikationsliste, seines Ohrleidens oder
seiner «unverträglichen Art» - nie auf einen Lehrstuhl berufen. In der
Folge versuchte er, die philologische Editionsarbeit, die sein Metier
blieb, aufzuwerten und von ihrem Ruf als mechanische Hilfswissenschaft zu
befreien. Die Prämissen von Fränkels Editionspraxis, in der sich Akribie und
«Divination» verbanden, gelten heute als problematisch. Immerhin hat kein
Geringerer als Walter Benjamin notiert, Fränkels Apparat zur kritischen
Keller-Ausgabe zähle «zu den wenigen, deren Studium an sich ein Vergnügen
ist».
Fränkel beschränkte sich indes nicht darauf, eigene Arbeiten vorzulegen,
sondern kritisierte auch jene seiner Fachkollegen - mit offenem Visier und
oft mit schneidendem Spott. Diese - allen voran Faesi und Ermatinger -
reagierten mit Pressionen. Es gelang ihnen, Fränkels berufliches Fortkommen
zu behindern. In einem vergifteten Klima massiver antisemitischer
Anfeindungen und materieller Unsicherheit kam Fränkels Keller-Ausgabe nur
noch schleppend voran.
Er liess sich zu Verzweiflungstaten hinreissen, wurde vollends zum
Querulanten abgestempelt, die (subventionierte) Ausgabe wurde ihm mit
staatlicher Vollzugshilfe entwunden und die Redaktion der verbleibenden
Bände Carl Helbling übertragen. Schütt hat die Machenschaften von Fränkels
Gegnern akribisch nachgezeichnet; Fränkel selbst hat in mehreren brillanten
Schriften («Staats-Philologie») seine Position überzeugend vertreten,
wenngleich er in der Sache selbst - nicht anders als im Spitteler-Streit, in
welchem es um sein Recht als vom Dichter selbst eingesetzter
Nachlassverwalter ging - auf verlorenem Posten kämpfte.
Schütts Forschungen sind vor allem durch die Fülle der Detailergebnisse
aufschlussreich; diese lassen sich nicht ohne weiteres verallgemeinern. Eine
Bilanz lässt sich jedoch zweifellos ziehen: Es gelang der Schweizer
Literaturwissenschaft 1933 bis 1945 nicht, die Exilkultur zu integrieren;
die Belege für Angst, Anpassertum und ideologische Verblendung sind häufiger
als jene für Nüchternheit, Hilfsbereitschaft und Mut.
Manfred Papst

Julian Schütt: Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in
der Zeit des Nationalsozialismus. Chronos-Verlag 1996. 342 S., Fr. 44.-.

Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.
Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON 01.02.1997 Nr. 26 46


Lange scheint es niemanden interessiert zu haben, welche Rolle die Schweizer Germanistik während der Zeit des Nationalsozialismus gespielt hat. Julian Schütt ist der erste, der sich eingehend mit der Materie beschäftigt hat. Die Ergebnisse seiner Studie, die auf einer Dissertation bei Peter von Matt beruht, sind von weitreichender Brisanz. Denn er untersucht im Anschluss an Bourdieu nicht nur das «literaturwissenschaftliche» Feld, sondern erprobt eine «ideologieanalytische Doppellektüre», indem er auch nach der Stellung der Germanistik im politischen Raum fragt. Schütt versucht also, einen zweifachen Machtkontext zu beschreiben.
Konkret bedeutet dies, dass er nicht nur die universitäre Entwicklung der Schweizer Germanistik vom Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nachzeichnet, sondern auch ihre komplexe Verwicklung in die Öffentlichkeit. Was dabei zum Vorschein kommt, sind weniger eindeutig skandalöse Machenschaften als eine Vielzahl engherziger und opportunistischer Haltungen und Handlungen. Das gilt selbst für die Vorgänge, die zur schrittweisen Isolierung und Ausschaltung des verdienten Spitteler- und Keller-Herausgeber Jonas Fränkel geführt haben. Julian Schütt hat den «Fall» schon vor Erscheinen seines Werkes in der Tagespresse unter dem Titel «Ein Mann wird erledigt» dargestellt; im Untertitel ist von einem «Skandal» die Rede. Dem widerspricht jedoch seine eigene detailgenaue Schilderung der Vorgänge, die sich von 1933 bis 1954 hinzogen. Fast alle bekannten Schweizer Germanisten (Ermatinger, Faesi, Bohnenblust, Muschg, Staiger) mischten sich ein, ebenso der berüchtigte Chef des Departements des Innern, Philipp Etter. Doch kommt kaum direkter Antisemitismus gegen den jüdischen Wissenschaftler zum Ausdruck. Fatal war für Fränkel vielmehr die diffuse Mischung der Abwehr: mangelnde Toleranz gegenüber einem unbequemen, aber innovativen Kollegen, kleinkarierte Nachlassstreitereien, haltlose, untergründig-anti-semitischen Unterstellungen (persönliche Bereicherung an der Keller-Edition) sowie eine formaljuristisch abgesegnete Hartherzigkeit.
Statt der Enthüllung empörender Abscheulichkeiten also schwer fassbare Geschichten, die von Anpassungsdruck, Selbstgerechtigkeit und Intoleranz erzählen. Schütts Verdienst ist es, diese Geschichten geduldig und vorurteilslos nachzuerzählen. Auch da, wo voreilige Schlüsse naheliegen, bei der kurzzeitigen Mitgliedschaft von Emil Staiger in der Nationalen Front 1933/34 oder bei der Teilnahme von Faesi, Ermatinger und Bohnenblust an der 50-Jahr-Feier der Goethe-Gesellschaft inmitten von Hakenkreuzfahnen bleibt Schütt sachlich und ist bemüht, zeittypische Gemeinsamkeiten und übergeordnete Marktzwänge nicht zu unterschlagen.
Eine auffällige Gemeinsamkeit jenseits unterschiedlicher literaturwissenschaftlicher Positionen ist etwa die Dominanz antimodernistischer Einstellungen in der helvetischen Germanistik. Auch da, wo man den Antisemitismus der NS-Ideologie nicht teilt, bringt man sich durch die explizite Abwehr von Grossstadt, Weimarer Republik, Proletariat, Literaten und Avantgarde in deren Nähe. Eine prominente Ausnahme bildet hier nur Walter Muschg.
Eine weitere wichtige Gemeinsamkeit, von der auch Walter Muschg nicht ganz auszunehmen ist, stellt ausserdem die Abgrenzung gegenüber der Exilkultur dar, die im einzelnen für die Betroffenen verheerende Folgen haben konnte. Schütt arbeitet pointiert das Paradox heraus, dass eine Germanistik, die fachlich den Begriff der «Einfühlung» ins Zentrum stellte, faktisch zum Mitgefühl für die Opfer des Nationalsozialismus unfähig war: «Jene Gelehrten, die am vehementesten das intime Erlebnis mit Dichtern und ihren Texten forderten oder von Einfühlung sowie Verantwortlichkeit gegenüber der Gemeinschaft schwärmten - sie liessen faktisch diese Forderungen in der NS-Zeit am schmerzlichsten vermissen.»
Trotz der Sorgfalt und der Breite von Schütts Untersuchung bleiben am Schluss viele Fragen offen. Sie betreffen sowohl den Gegenstand wie auch Schütts Zugriff. Einzelne Positionen werden nur knapp umrissen, Fritz Strich etwa; Max Wehrli wird hauptsächlich in den Anmerkungen berücksichtigt.
Insbesondere stellt sich aber die Fra ge, ob eine Darstellung der Zeit des Nationalsozialismus, die das Wissen um die Shoah ausklammert, nicht schlicht verharmlosend sei.

Martin Luchsinger (Basel)
traverse - Zeitschrift für Geschichte - Revue d'histoire 1998 / 01