Soziale Beziehungen im Dorf
Aspekte dörflicher Soziabilität in den Landvogteien Greifensee und Kyburg um 1500
Broschur
2000. 341 Seiten
ISBN 978-3-905313-51-2
CHF 48.00 / EUR 28.00 
Vergriffen / Restexemplare beim Verlag (Versand nur innerhalb der Schweiz)
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«So lüge sy als ein hegx und als ein diebin», mit diesen Worten parierte Felix Kramer aus Uster im Jahre 1522 den Angriff auf seine Ehre durch Anna Lurin. Diese hatte behauptet, er hätte die Krätze. Solche auf den ersten Blick belanglosen, geringfügigen Auseinandersetzungen stehen im Zentrum der Untersuchung: alltägliche Streitigkeiten, Versöhnungen und solidarische Beziehungen in den Dörfern der Landvogteien Greifensee und Kyburg um 1500. Die Protagonisten sind kleine Leute aus dem Dorf wie auch Inhaber dörflicher Ämter und Vertreter der Obrigkeit. Nach einem einleitenden, verfassungsgeschichtlichen Teil beschreibt Katja Hürlimann facettenreich das soziale Leben der Dorfleute im Zürcher Untertanengebiet: ihre Konfliktkultur, die unterschiedlichen Formen von Solidaritäten, ihre Treffpunkte, Festivitäten und Kommunikationsformen.
Die Autorin erschliesst mit Gerichtsakten und -büchern aus der Zürcher Landesherrschaft einen bis anhin wenig beachteten, aber überaus reichen und vielfältigen Quellencorpus, den sie anhand von zahlreichen illustrativen Beispielen vorstellt. Inspiriert von der französischen Soziabilitätsforschung, fragt sie nach dem Konflikthandeln und damit nach dem Funktionieren dörflicher Gesellschaften und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur historischen Kulturforschung in der Schweiz am Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit.

Katja Hürlimann, Dr. phil., Historikerin, arbeitet als Mittelschullehrerin und freischaffende Historikerin, zur Zeit Projektleiterin Luzerner Kantonsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Schweizer Geschichte, Historische Kriminalitätsforschung, Wald- und Forstgeschichte, Umweltgeschichte.


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Textauszug
«wie das die genant frow uff ein zit in einer offnen liechtstubenton offenlich geredt, er genannter Felix Kramer hetty den kratten [Krätze], damit sy inn geschmecht und geschenndt unnd als inn das von ir für komen, do habe er geredt, wenn sy das redty, so lüge sÿ als ein zerß [böse] hegx unnd als ein diebin unnd habe das in kein andern fuog nach gestalt anderst nit geredt, dann wenn sy redty, das er den kratten hette, so luge sy als ein hegx unnd als ein diebin ...»
Aussage von Felix Kramer vor dem Landvogteigericht zu Uster [StAZ A 123.1 nr. 77 (7. 2. 1520)]

Besprechungen
Streithähne und Zankäpfel Das Leben in den Vogteien Greifensee und Kyburg um 1500 Durch die Auswertung von Gerichtsakten erschliesst die Zürcher Historikerin Katja Hürlimann die sozialen Beziehungen in den Vogteien Greifensee und Kyburg am Ende des Mittelalters. Streitereien um Geld, gebrochene Eheversprechen und Gerüchte geben Hinweise auf Wertvorstellungen, Solidaritäten und Rivalitäten in den Zürcher Dörfern. sbu. Kaplan Burkhart Kochenrübli von Greifensee hatte ein massives Image-Problem: Um 1508 klagten seine Schäfchen gegen ihren religiösen Hirten, weil der seit zwölf Jahren seine Tochter missbrauche und nach dem Misten mit schmutzigen Händen über den Altar gestrichen sei. Durch die Auswertung von Gerichtsakten erschliesst die Zürcher Historikerin Katja Hürlimann den Alltag in der Zürcher Landschaft am Ende des Mittelalters. Streitigkeiten wie die zwischen Kochenrübli und den Einwohnern von Greifensee, die sich über ihren liederlichen Kaplan ärgerten, untersucht sie auf ihre Aussagekraft für die Rekonstruktion des alltäglichen Lebens. Konfliktkultur, Soziabilitätsformen sowie Soziabilitätsorte und Kommunikation in der Zeit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert sind das Thema ihrer Dissertation «Soziale Beziehungen im Dorf». Im Anschluss an die französische Soziabilitätsforschung widmet sich die Autorin darin der noch wenig untersuchten ländlichen Gesellschaft Zürichs. Meist ökonomische Motive Die meisten der von Katja Hürlimann ausgewerteten Quellen verweisen auf alltägliche Streitereien. Die Nutzung von Wegen und Allmenden, Erbschaften, Schulden und sonstwie strittige Verträge erregten die Gemüter der Bauern in den von ihr untersuchten Vogteien Greifensee und Kyburg am häufigsten. Ein jahrelanger Streit um ein Waldstück bei Werrikon (Gemeinde Uster) erhellt so die Beziehungen zwischen den Einwohnern von Werrikon und den ausserhalb wohnhaften Ustermer «Ausholzgenossen». Durch die kritische Beobachtung und Auswertung der Konflikte gelingt Hürlimann eine punktuelle Rekonstruktion der mittelalterlichen ländlichen Gesellschaft. Erst nach der Einführung der Möglichkeit zur Appellation vor dem Zürcher Ratsgericht im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts waren die niederen Gerichte öfters gezwungen, ihre Urteile schriftlich zu fassen. So wurde die Basis gelegt, auf die sich Hürlimann in ihrer Dissertation berufen kann. Dabei zeigt sie in den Überlegungen zur Funktion der schriftlichen gegenüber der mündlichen Rechtstradition, was moderne Mittelalterforschung zu leisten vermag. Hürlimanns scharfsinnige Untersuchung zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass die Autorin offene Fragen und Ungereimtheiten ihrer Quellen auszuhalten vermag. Statt bequeme Antworten zu liefern, beharrt sie auf dem Faktum, dass sich die Vergangenheit nicht mehr vollständig erschliessen lässt. In keinem Augenblick vergisst sie, wie spezifisch der Blick auf die Gesellschaft sein muss, wenn man sich ihr über Gerichtsakten annähert. Umso überzeugender sind die differenziert gezeichneten Bilder der Auseinandersetzungen um divergierende Normvorstellungen von Untertanen und Obrigkeit oder zu den oft ökonomischen Hintergründen von Ehrverletzungen. Nuanciertes Bild der Vergangenheit Entgegen der Klischeevorstellung, dass die mittelalterliche Justiz willkürlich und stets zugunsten der Obrigkeit geurteilt habe, zeigt Hürlimann, dass die Gerichte verschiedentlich das renitente Verhalten der Untertanen schützten. Die grundsätzliche Verschiedenheit der spätmittelalterlichen Rechtskultur von der heutigen Justiz wird deutlich im fehlenden Gewaltmonopol und in der wenig konfrontativen Prozessführung. Die Gerichte waren darauf bedacht, Frieden zu stiften, indem sie möglichst beiden Parteien teilweise Recht gaben und nach einem Ausgleich suchten. Selbst Totschlag konnte am Ende des Mittelalters noch aussergerichtlich beigelegt werden. Aufschlussreich sind auch Hürlimanns Auswertungen der Akten des Zürcher Ehegerichts. So weist sie nach, dass auf der Landschaft um 1500 noch freizügiger gelebt und geliebt wurde als in der Stadt. In den Dörfern wurde vorehelicher Geschlechtsverkehr auch dann toleriert, wenn dem Liebesakt keine Hochzeit folgte. Anders sah die Situation allerdings aus, wenn die Frau schwanger wurde. Entsprechend sind in den Gerichtsakten Eheversprechen zu finden, die mit dem Vorbehalt verknüpft waren, dass Mann und Frau heiraten würden - falls das Schäferstündchen Folgen haben sollte. In den Akten über Streit und Zank in den Vogteien findet Hürlimann Bruchstücke aus dem Alltag und rekonstruiert Szenen aus Wirtshäusern, Lichtstuben und anderen öffentlichen Orten. Katja Hürlimann: Soziale Beziehungen im Dorf. Aspekte dörflicher Soziabilität in den Landvogteien Greifensee und Kyburg um 1500. Chronos-Verlag, Zürich 2000. 341 S., Fr. 48.-. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ. Neue Zürcher Zeitung ZÜRICH 25.07.2000 Nr. 171 35