ArbeitsKreis Armenien (Hg.)
Völkermord und Verdrängung
Der Genozid an den Armeniern – die Schweiz und die Shoah
Broschur
2002. 198 Seiten, 6 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-905312-40-9
CHF 32.00 / EUR 29.00 
  • Kurztext
  • Einblick
  • In den Medien
Die Geissel des 20. Jahrhunderts, der Völkermord, den man nach der Judenverfolgung unter Hitler bereits tot geglaubt hatte, ist mit Ruanda und Jugoslawien wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Das vorliegende Buch lädt mit facettenreichen Beiträgen zu einer breiten, interdisziplinären Auseinandersetzung mit dem Faktum der systematischen Vernichtung einer Volksgruppe ein.
Am Beispiel des langen Weges zur Anerkennung und Verurteilung des Völkermordes an den Armeniern, den die Türkei noch heute leugnet, werden politische und rechtliche Probleme verdeutlicht. Nationalrätin Angéline Fankhauser versucht die stumme Haltung des Nationalrates gegenüber der Petition zur Anerkennung und Verurteilung dieses Völkermordes zu erklären. Der Strafrechtsprofessor Marcel Niggli beleuchtet die Rechtslage für die noch hängige Anzeige gegen die Gegenpetition mehrerer türkischer Vereine, in welcher der Völkermord abgestritten wird, was nach dem neuen Antirassismusartikel unzulässig ist. Der Historiker und US-Armenier Prof. Vahakn Dadrian schildert die Abläufe und Hintergründe dieses Genozids. Beiträge, welche die damaligen Reaktionen in der schweizerischen Presse und Öffentlichkeit sowie die weltweiten Vorstösse zur Verurteilung und die türkischen Gegenmassnahmen nachzeichnen, runden das Bild ab.
Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes war eine der ersten Initiativen der neu gegründeten UNO. Dieses Abkommen von 1948 wird erst jetzt in Bern zur Unterzeichnung vorbereitet und voraussichtlich Ende 1997 dem Parlament zur Ratifikation vorgelegt. Der schweizerische Völkerrechtler Prof. Dietrich Schindler stellt diese Konvention vor. In weiteren Artikeln werden Fragen der Umsetzung in nationales Recht sowie der Anwendung in Ruanda diskutiert. Vom Konzept des Ethnonationalismus ausgehend, analysiert der Historiker Urs Altermatt die Herausforderungen der internationalen Staatengemeinschaft in Ex-Jugoslawien.
Der Völkermord betrifft uns alle. Eine Schlüsselrolle kommt den Historikern, Schriftstellern und Journalisten zu, die das Geschichtsbild der Öffentlichkeit stark prägen und gegen das Vergessen und Verdrängen ankämpfen. Drei junge Historikerinnen und Historiker zeichnen die Auseinandersetzung mit der Shoa im Laufe der Zeit in der Literatur und Geschichtsschreibung nach und reflektieren die Aufarbeitung der Schweizer Geschichte. Der Geschichtsphilosoph Christphf Dejung wirft grundsätzliche Fragen zur Beschäftigung mit dem Thema Völkermord auf, und NZZ-Redaktor Reinhard Meier legt dar, weshalb die Auseinandersetzung mit Jahrzehnte zurückliegenden Ereignissen für demokratische Gesellschaften unerlässlich, ja sogar nützlich ist.

Das vorliegende Buch lädt mit Beiträgen zu Recht, Politik und Geschichte zu einer breiten, interdisziplinären Auseinandersetzung mit Völkermord und dessen Verdrängung ein.
Inhalt
Jacques Picard: Das Recht auf Erinnerung
Vahakn N. Dadrian: Der Völkermord an den Armeniern. Geschichtliche, politische und rechtliche Aspekte
Peter Bührer: Die Verfolgung des Armenischen Volkes im Osmanischen Reich und das Echo in der Schweiz
Elvira Kiendl: Etappen der Bemühungen um die Anerkennung des Völkermordes und die türkischen Gegenreaktionen
Angéline Fankhauser: Der lange Schatten der Türkei. Zur Nichtanerkennung des armenischen Genozids durch die offizielle Schweiz
Marcel Niggli: Leugnung von Völkermord, Menschenwürde und die Problematik von Rassismusverboten
Dietrich Schindler: Der Beitrag des Völkerrechts zur Verhütung des Völkermordes und die Mitwirkung der Schweiz
Martin Sychold: Die Umsetzung der Uno-Konvention in nationales Recht
Renaud Weber: Das Uno-Tribunal für Ruanda. Plädoyer für die Errichtung eines permanenten internationalen Strafgerichtshofes
Urs Altermatt: Der Ethnonationalismus als europäischer Wahn
Christoph Dejung: Über Völkermord nachdenken. Völkermord ist öffentliche Sache
Raphael Gross, Werner Konitzer: Überlegungen zur Institutionalisierung einer unabhängigen Geschichtsbarkeit
Daniel Wildmann: Wo liegt Ausschwitz? - Geographie, Geschichte und Neutralität
Reinhard Meier: Geschichtsklärung als demokratische Chance

Besprechungen
Wider die Verdrängung der Völkermorde Das Schicksal der Armenier als exemplarischer Fall vmt. Während des Ersten Weltkriegs kam im Osmanischen Reich bei Massakern ein grosser Teil der armenischen Bevölkerung ums Leben. Der Genozid wird vom türkischen Staat bis heute geleugnet und nur von internationalen Organisationen und wenigen Regierungen anerkannt. In einem Buch tritt der in Zürich tätige Arbeitskreis Armenien dafür ein, sich solchen Verbrechen entgegenzustellen. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er der Haltung der Schweiz. Kontroverse Geschichtsbilder Die historischen Ereignisse, die als Völkermord an den Armeniern beklagt werden, sind nicht auf Anhieb zu fassen. Die Türkei, in deren Gebiet sie sich zutrugen, und die Armenier, die verschont blieben, stellen sie völlig unterschiedlich dar, und auch in der Fachwelt besteht kein einheitliches Bild. Als gesichert gilt immerhin genug Erschütterndes: 1915 liess die auf der Seite der Mittelmächte im Krieg stehende türkische Revolutionsregierung die armenische Minderheit in die syrische Wüste deportieren, und dabei kam ein grosser Teil der Verschleppten ums Leben. Eine ausser Kontrolle geratene Reaktion auf die schwankende Loyalität und auf separatistische Aufstände in der armenischen Bevölkerung ist die Türkei- freundlichere Erklärung, die Ausführung eines Vernichtungsplans mit dem Ziel einer Vereinheitlichung der türkischen Gesellschaft ist die sehr wahrscheinlich zutreffendere. Bereits unter dem letzten Sultan waren Massaker an der armenischen Bevölkerung verübt worden, und auch nach dem Krieg sollten die Massenmorde nicht enden. Die türkische Seite räumt die Deportation ein und bestreitet nicht, dass diese mehrere hunderttausend Opfer forderte. Sie rechtfertigt sie indessen als unumgängliche Massnahme mit ungewollten Folgen. Armenier sprechen von über einer Million Toten und werten es als Ungeheuerlichkeit, von unglücklichen Umständen zu sprechen. Hintertriebene Anerkennung Der Genozid an den Armeniern ist das Ausgangsthema einer Publikation mit dem Titel «Völkermord und Verdrängung». Das Buch befasst sich ausser mit dem Verbrechen selbst und dem Kampf um dessen Anerkennung vor allem mit dem Phänomen Völkermord vor einem weiteren Horizont. In beiden Fällen bringen die Herausgeber zudem die Haltung der Schweiz breit zur Sprache - man könnte eigentlich von einer Studie über die Schweiz und das Problem des Völkermords (an den Armeniern) sprechen. Der sorgfältig zusammengestellte Band umfasst über ein Dutzend Beiträge von Experten aus verschiedenen Fach- und Tätigkeitsgebieten. Der Zürcher Arbeitskreis Armenien, der sich in vielfältiger Weise für armenische Anliegen einsetzt, will mit der Publikation der Leugnung und Verdrängung von Genoziden im allgemeinen entgegentreten. Es klingt nüchtern, wenn die Herausgeber den Weg zur Anerkennung des Schicksals der Armenier als steinig bezeichnen. Die Beiträge über den Genozid und die Anstrengungen um dessen Verurteilung auf internationaler Ebene und in der Schweiz lassen diesen Weg schon eher zermürbend erscheinen. Trotz jahrzehntelangen Bemühungen haben bisher nur sehr wenige Staaten den Völkermord verurteilt. Erst 80 Jahre nach der Deportation erklärte ihn ein Unterausschuss der Uno-Menschenrechtskommission nach langem Tauziehen und trotz massivem Druck von türkischer Seite zum historischen Faktum nach der Definition der Uno-Völkermordkonvention. 1987 anerkannte ihn das Europäische Parlament im selben Sinn. Ein kurz nach Erscheinen des Sammelbands in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» veröffentlichter Bericht über die Verurteilung des Völkermords in der französischen Nationalversammlung Ende Mai dieses Jahres vermerkt bezeichnende Reaktionen der offiziellen Türkei: Gegen den Gesetzesentwurf intervenierten mehrere hochrangige Vertreter bis hin zu Staatspräsident Demirel; umgehend wurde mit Sanktionen gegen französische Wirtschaftsinteressen gedroht, obschon Frankreich eben erst zum strategischen Partner in Europa erklärt worden war und Demirel noch im Februar einen Zusammenarbeitsvertrag mit der französischen Regierung unterzeichnet hatte. Die Episode zeigt nicht nur, wie sehr die notabene erst nach den letzten Massakern gegründete türkische Republik bis heute Mühe hat, die damaligen Ereignisse zuzugeben. Sie illustriert auch die im Buch vertretene Ansicht, dass das Land bisher das Haupthindernis im verzweifelten Kampf um eine Verurteilung gewesen ist. Eine wichtige Rolle spielten und spielen laut den Autoren aber auch politische und wirtschaftliche (Einzel-)Interessen der anderen Staaten. Ihretwegen wurden schon die von den Siegermächten anfänglich noch angedrohten Strafmassnahmen nie wahr gemacht. Auswege aus dem Wiederholungszwang Eine allgemeinere Auseinandersetzung mit Völkermord muss zum einen die juristischen Anstrengungen gegen diese «Geissel des 20. Jahrhunderts» in den Blick nehmen. Entsprechend wenden sich die Herausgeber der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen zu, die 1948 unter dem Eindruck des paradigmatischen Einzelfalls, des Holocausts, zustande kam. Dabei wird insbesondere das Problem der Reichweite dieses Übereinkommens deutlich: Auf der einen Seite vermag sich heute kein Staat mehr dem darin gesetzten, universell gültig gewordenen Recht zu entziehen. Auf der anderen Seite sind der Verfolgung des Völkermords auf der Grundlage der Konvention gewisse Grenzen gesetzt. Akut haben sich die Anwendungserschwernisse mit der Einrichtung der Strafgerichte für das frühere Jugoslawien und für Rwanda bemerkbar gemacht. Nicht von ungefähr mündete diese Erfahrung in die Debatte um ein ständiges internationales Strafgericht für Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht, dessen Einrichtung Ende Juli dieses Jahres eine Sonderkonferenz der Uno in Rom beschlossen hat. Wohl nicht zuletzt die Einsicht in die Grenzen des Völkerrechts hat einem anderen Versuch zur Überwindung der Genozide zu Bedeutung verholfen: der geschichtlichen Aufarbeitung. Die Historiker haben in dieser Sicht die Verantwortung, dem Vergessen und dem Verdrängen ihre Erkenntnisse entgegenzuhalten und auf der geschichtlichen Wahrheit zu bestehen. Sie können auch typische mentalitätsgeschichtliche Wurzeln der Völkermorde ausmachen, die, einmal freigelegt, Hinweise für nötige Umdenkprozesse geben dürften. Allerdings läuft die historische Forschung damit Gefahr, zu einer Instanz gemacht zu werden, die verbindliche Urteile fällt und so der Rechtsprechung vorbehaltene Aufgaben übernimmt. Sonderfall Schweiz? Die Beiträge, die sich mit der Problematik aus dem schweizerischen Blickwinkel befassen, entwerfen ein Bild, das sich kaum vom Verhalten der meisten westlichen Demokratien unterscheidet, die zum Genozid an den Armeniern bis heute ausser in internationalen Organisationen keine Stellung beziehen mochten. Während hierzulande das Verbrechen wie schon die vorausgehenden Massaker starke Resonanz fand, scheiterten die Versuche, die Landesregierung und das Parlament zu einer formellen Verurteilung zu bewegen. So zuletzt eine parlamentarische Anfrage an den Bundesrat von 1995 und kurz danach eine fast gleichlautende Petition an die eidgenössischen Räte. Auch in der Schweiz machten sich offensichtlich türkische Druckversuche und vor allem Rücksichten auf die Exportwirtschaft bemerkbar, begleitet von formalistischen Einwänden und der Angst vor einer Verschlechterung schon belasteter Beziehungen zur Türkei. Immerhin kam in der Folge endlich Bewegung in die von der Landesregierung seit Jahren in Aussicht gestellte, aber nie vollzogene Ratifikation der Völkermordkonvention. Der Band rührt auch im Bereich der Klärung der eigenen Geschichte an einen Schwachpunkt, nämlich an die Widerstände in der Diskussion um die Rolle der Schweiz im Zusammenhang mit dem Holocaust. Doch obschon er damit einen einleuchtenderen Bogen schlägt, als er auf den ersten Blick erwarten lässt, wird dieses Thema überraschend knapp ausgeführt. Vielmehr kehrt er wieder auf eine allgemeinere Ebene zurück, zu den Voraussetzungen und zur Bedeutung, welche die gegenwärtige Aufarbeitung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs nicht allein hierzulande, sondern auch in anderen europäischen Ländern hat: Eine Klärung kann nur in einer offenen, demokratischen Gesellschaft stattfinden. Auch diese vermag die Neigung zum Vergessen und zur Verdrängung freilich nur durch eine intellektuelle und emotionale Verarbeitung in einer breiten Öffentlichkeit zu überwinden. Und erst solchermassen von alten Hypotheken befreit, wird sie sich der Zukunft erfolgreich stellen können. Arbeitskreis Armenien (Hg.): Völkermord und Verdrängung. Der Genozid an den Armeniern - die Schweiz und die Shoah. Chronos-Verlag, Zürich 1998. 198 S., Fr. 32.-. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ. Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 03.11.1998 Nr. 255 49