Fabrikmahlzeit
Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890–1950
Gebunden
1999. 600 Seiten, 64 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-905312-01-0
CHF 78.00 / EUR 47.00 
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Mittagszeit in der Fabrik. Die Sirenen heulen. Ein Teil der Belegschaft macht sich auf den Weg nach Hause. Andere holen die aufgewärmten Speisen, die sie frühmorgens mitgebracht haben. Oder sie bewegen sich in Richtung Kantine, wo ihnen die Düfte der Mahlzeit aus der rationellen Grossküche entgegenströmen.
Was befand sich in den Töpfen und Tellern der in einen industriellen Fabrikbetrieb integrierten Menschen? Welche Vorstellungen verbanden diese mit Essen und Trinken? Gab es einen Zusammenhang zwischen der Ordnung der Arbeit und der proletarischen Gastronomie? Wie veränderten die räumliche Konzentration der Arbeitskräfte im Fabrikbetrieb und die Durchsetzung industrieller Zeitrhythmen die geschlechtsspezifischen Rollennormen und die hauswirtschaftliche Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen? Welche Rolle spielten die Kantinen in den «industriellen Beziehungen» zwischen Kapital und Arbeit im modernen Grossbetrieb?
Anhand der Geschichte der Fabrikkantinen, die vom 1914 gegründeten und seit 1917 in Industrieunternehmen tätigen «Schweizer Verband Volksdienst» geführt wurden, wird gezeigt, wie wenig das thermodynamische Körperbild des «menschlichen Motors» auf die Bedürfnisse arbeitender Menschen abgestimmt war und wie wichtig in einer Phase forcierter Rationalisierung die emotionale Seite des Essens und Trinkens war. Die Studie unternimmt abschliessend einen Ausblick auf die Jahre des Zweiten Weltkrieges, als Ernährung und Arbeit zu Symbolen des nationalen Überlebenskampfes der Schweiz überhöht wurden.

Professor em. für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Autor mehrerer Bücher zur Geschichte der Schweiz im europäischen Kontext sowie Publikationen zur nationalen Mythologie. Mitglied der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Gründungsmitglied des Zentrums Geschichte des Wissens (ETH und Universität Zürich) und (Mit-)Herausgeber mehrerer wissenschaftlicher Zeitschriften.

 


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Ernährung in der Industrialisierung Die Fabrikmahlzeit als Phänomen der Sozialgeschichte Tischsitten und Essgewohnheiten waren lange ein eher randständiges kulturgeschichtliches Thema. Erst die Beschäftigung mit den weltweiten Problemen der Versorgung einer wachsenden Bevölkerung hat den Blick der Historiker geschärft für die Strategien zur Überwindung von Mangel und Hunger. Was wo und von wem gegessen wird, hängt - so wissen wir heute - nicht nur von der Verfügbarkeit der Nahrungsmittel ab, sondern ebenso von hierarchischen Ordnungsvorstellungen, sozialen Beziehungen und wissenschaftlichen Normsetzungen. Der Wandel der Ernährungsweisen ist deshalb zu einem Forschungsfeld geworden, das wirtschafts-, sozial- und wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen integrieren muss. Wie diese verschiedenen Ansätze zu einer erhellenden Gesamtschau verwoben werden können, zeigt die Habilitationsschrift des an der Universität Zürich lehrenden Historikers Jakob Tanner. Am Beispiel der Fabrikmahlzeit untersucht er, wie sich in der Schweiz zwischen 1890 und 1950 unter den Einwirkungen der Industrialisierung die Wahrnehmung der Volksernährung und die Einstellung zur ausserhäuslichen Verpflegung verändert haben. Rationalisierung Dass im ausgehenden 19. Jahrhundert die Lösung der «sozialen Frage» vor allem über die Verbesserung der Ernährungssituation der Unterschichten angegangen wurde, ist auf die säkulare Erfahrung des Mangels zurückzuführen. Die optimale Verwertung und Verteilung der knappen Nahrungsmittel beschäftigte nicht nur Sozialreformer und Behörden, sie wurde auch zu einem zentralen Thema der Natur- und der Sozialwissenschaften. Im ersten Teil seiner Darstellung geht Tanner dieser Verwissenschaftlichung der Ernährungsproblematik nach: dem von der Physiologie entwickelten Modell des menschlichen Körpers als «Motor», dem genügend Nährstoffe zugeführt werden müssen, um seine Leistungsfähigkeit zu erhalten, der neuentstehenden Arbeitswissenschaft, die in tayloristische Rationalisierungsideen mündete, und der auf Haushaltrechnungen aufbauenden Konsumstatistik, die den Konnex zwischen Kaufkraft und Ernährungsstandard thematisierte. Die Umsetzung der wissenschaftlich abgestützten Forderung nach «rationeller Ernährung» griff einerseits über die Etablierung von Kostnormen und Geldnährwerten in die Familienwirtschaft ein. Die Verantwortung für die Erhaltung der Volkskraft bei sparsamem Mitteleinsatz konnte nun den kochenden Hausfrauen zugeschoben werden. Das führte zu einer Verstärkung der geschlechtsspezifischen, die Frauen benachteiligenden Aufgabenzuweisungen und Ressourcenzuteilungen. Anderseits setzen die durch Versorgungslücken und Lebensmittelteuerung ausgelösten sozialen Konflikte während des Ersten Weltkriegs bei den Behörden einen Lernprozess in Gang. Die im Zweiten Weltkrieg ergriffenen Rationierungsmassnahmen, denen ein informatives Kapitel gewidmet ist, berücksichtigten sowohl die mittlerweile differenzierteren Vorgaben der Ernährungswissenschaft als auch Bedarfs- und Einkommensunterschiede. Fürsorge und Selfservice Tanner behandelt jedoch nicht nur die breite und international vernetzte Rezeption des Expertenwissens, sondern auch die Praxis der Arbeiter, Unternehmer und Fürsorgerinnen. Während die Arbeiterbewegung eine bessere Ernährung über Lohnerhöhungen zu erreichen suchte, nahmen die Arbeitgeber lange einen paternalistischen Standpunkt ein. Exemplarisch werden die Verpflegungseinrichtungen der Basler chemischen Industrie vorgestellt, von den frühen Wohlfahrtshäusern bis zu den modernen Personalrestaurants. In der noch in der Zwischenkriegszeit üblichen Segregation der Speiseräume für Arbeiter, Angestellte und Direktionsmitglieder spiegelten sich Betriebshierarchie und Klassenschranken. Das erklärt zum Teil die Abneigung der Arbeitnehmer und Gewerkschaften gegen die als Almosen empfundenen Kantinen. Wie die ausgewerteten Berichte der Fabrikinspektoren deutlich machen, hielten die Arbeiter an ihren traditionellen Essgewohnheiten fest. Sie zogen die von Tanner als «Endoküche» bezeichnete, zu Hause bereitete und dort verzehrte oder an den Arbeitsplatz mitgebrachte Mahlzeit der betriebsgebundenen «Exoküche» vor. Dass sich die Gemeinschaftsverpflegung, deren Angebote sich mit der Zeit den individuellen Bedürfnissen besser anpassten, verbreiten konnte, war nicht zuletzt dem aus den alkoholfreien Soldatenstuben des Ersten Weltkriegs hervorgegangenen Verband Volksdienst und seiner Leiterin Else Züblin-Spiller zu verdanken. In den vom Volksdienst im Geiste der sozialen Mütterlichkeit geführten Einrichtungen wurde der emotionalen Seite des Essens ebenso Rechnung getragen wie den ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen und der Rationalisierung der Arbeitsabläufe. Die aus den Vereinigten Staaten übernommene Selbstbedienung erlaubte es, das Angebot auszuweiten und in kürzerer Zeit mehr Gäste zu verpflegen. Die Zunahme der ausserhäuslich eingenommenen Mahlzeiten hängt aber auch zusammen mit der Einführung von neuen Arbeitszeitregelungen und der «Demokratisierung» der Ernährung, einer bedarfsorientierten Verteilungsgerechtigkeit, die sich mit der kriegsbedingten Rationierung durchsetzte. Mit dem Übergang zur Konsumgesellschaft veränderten sich auch die Essgewohnheiten grundlegend. In welchem Masse der Diskurs um die richtige Ernährung in die jeweiligen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eingebettet ist, macht der das Buch abschliessende Ausblick auf die Nachkriegsjahrzehnte deutlich, in denen nicht mehr der Mangel, sondern der Überfluss in den industrialisierten Ländern die Wissenschaft zu beschäftigen begann. Die Überlegungen, die Tanner zu dieser neuen Entwicklung anstellt, verweisen nochmals eindrücklich darauf, wie durch Essen und Trinken nicht nur ein Grundbedürfnis befriedigt, sondern zugleich auch soziale und kulturelle Identität hergestellt wird. Beatrix Mesmer Jakob Tanner: Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890-1950. Chronos-Verlag, Zürich 1999. 599 S., Fr. 78.-. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ. Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR 06.12.1999 Nr. 184 35