Die Moral auf dem Teller
Broschur
1993. 248 Seiten, 28 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-905311-10-5
CHF 12.00 / EUR 7.50 
Vergriffen
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Wir wissen es längst: Wer wenig Fleisch isst, lebt gesünder. Doch obschon der Ruf nach Mässigung bei Tisch immer lauter wird, bekommt Vater nach wie vor das grösste Steak. Warum? Weil sich in der Ernährung die Werte unserer Gesellschaft spiegeln. Und weil das Fleisch als Königin aller Speisen gilt. Essen ist mehr als ein Akt der Bedürfnisbefriedigung. Essen ist eine Ordnungsmacht. Bei Tisch beginnt die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Die Ordnung im Teller, Körperregime und soziale Ordnung sind aufs engste verknüpft. Albert Wirz schildert in einer fesselnden Sprache, wie wir mit dem Essen denken. Zwei Ärzte stehen im Mittelpunkt seines Buchs: der Amerikaner John Harvey Kellogg (1852-1943), der die Cornflakes erfand, und Maximilian Oskar Bircher-Benner (1867-1939), der Vater des Birchermüesli, welcher der Vollwertkost und der biologischen Ganzheitsmedizin den Weg bereitete.
Kellogg und Bircher-Benner stehen für zwei Hauptströmungen der Ernährungsrevolution, die unsere Gegenwart prägt: der Amerikaner für Industriefood und vegetarische Kost, der Schweizer für Rohkost und eine möglichst naturnahe Ernährung. Gemeinsam ist den beiden Ärzten, dass sie in der Ernährung einen Schlüssel zur körperlichen Gesundheit und zum Seelenheil erkannten. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie die symbolische Ordnung der Industriegesellschaft aus den Angeln zu heben versuchten. Gemeinsam ist ihnen schliesslich, dass sie, obschon ausgegorene Patriarchen, das Essen feminisierten, damit die patriarchale Geschlechterordnung untergruben und so die Sache der Vernunft förderten. Beide kämpften für eine radikale Lebensreform.
Bircher-Benner war ein Grüner vor der Zeit, ein konservativer Revolutionär und Naturmystiker. Mit genialischer Einsicht hat er vieles von dem vorweggenommen, was die Schulmedizin erst nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckte, als die Kinder der Überflussgesellschaft sich mit Fett, Fleisch und Zucker vollzustopfen begannen. Kaum ein Arzt hat so tiefgründig über seinen Beruf und über das Wechselspiel von Essen, Körper und Gesellschaft nachgedacht wie der radikale Doktor vom Zürichberg. Sein Müesli hat weltweit Ernährungsgeschichte gemacht. Die Philosophie hingegen, die hinter dem Birchermüesli stand, ist vergessen gegangen.
Das Buch lädt zu einer Entdeckungsreise durch die Geschichte des Essens ein. Es erzählt von Männerlust und Frauenhunger in der bürgerlichen Gesellschaft, von «schlechten» und von «guten» Speisen und vom Ordnungshunger, der uns alle bewegt. Mit Liebe, Scharfsinn und Humor geschrieben, öffnet es ganz neue Perspektiven auf das, was wir alle Tage tun, ohne gross darüber nachzudenken. Es richtet sich an alle kulturgeschichtlich Interessierten, an Ärztinnen und Ärzte, an Ernährungsberaterinnen, Köche und Köchinnen, Gourmets und Gourmands, Dicke und Dünne. Wetten, dass Sie nach der Lektüre das Essen mit neuen Augen sehen?

«Faszinierende Einblicke in die symbolische Bedeutung des Essens. Mit sozialanthropologisch geschultem Blick und Humor entlarvt er das Weltbild, das im Birchermüesli Gestalt angenommen hat. Und es gelingt ihm, anhand der Müesli-Speise exemplarisch die Grammatik unserer Mahlzeiten zu entschlüsseln und mit dem historischen und gesellschaftlichen Wandel der letzten hundert Jahre in Verbindung zu bringen.»
Neue Zürcher Zeitung

(1944–2003)
Albert Wirz, Dr. phil., Professor für die Geschichte Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin; Autor von: «Krieg in Afrika» (Wiesbaden 1982); «Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem» (Frankfurt a. M. 1984); «Die Moral auf dem Teller» (Zürich 1993). Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Soziale und politische Geschichte des subsaharischen Afrika im 19./20. Jahrhundert; Imagination und Repräsentation tropischer Natur (Regenwald). Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humbolt-Universität zu Berlin.

Inhalt
Die Sprache des Essens
Die Symphonie der Speisen und Mahlzeiten
Eine Speise wie Muttermilch: Zur Philosophie der Rohkost
Bircher-Benners Nahrungssystem
Der Mythos Natur oder die Angst vor der Eiweissfäulnis
Die Alpen im Bauch
Die Ordnungsgesetze
Sexualität und Krankheit
Diät für eine bessere Welt
Der Arzt als Erzieher
Nahrung fürs Seelenheil oder die moralische Physiologie
Die taylorisierte Verdauung
Essen im Lande des Überflusses
Der Auszug der Köchinnen
Schulmedizin und Industriefood.

Pressestimmen
«Faszinierende Einblicke in die symbolische Bedeutung des Essens. Mit sozialanthropologisch geschultem Blick und Humor entlarvt er das Weltbild, das im Birchermüesli Gestalt angenommen hat. Und es gelingt ihm, anhand der Müesli-Speise exemplarisch die Grammatik unserer Mahlzeiten zu entschlüsseln und mit dem historischen und gesellschaftlichen Wandel der letzten hundert Jahre in Verbindung zu bringen.» Neue Zürcher Zeitung

ALBERT WIRZ DIE MORAL AUF DEM TELLER DARGESTELLT AN LEBEN UND WERK VON MAX BIRCHER-BENNER UND JOHN HARVEY KELLOGG CHRONOS VERLAG, ZÜRICH 1993, 248 S., 28 ABB., FR. 38.- Man nehme Äpfel, Nüsse, Haferflocken, Zitronen und kondensierte Milch. «Zubereitung: Die Kondensmilch und der Zitronensaft werden zuerst unter die Haferflocken gemischt, dann werden die Äpfel mit Haut, Gehäuse und Kernen auf dem Apfelreibeisen unter kräftigem Druck gerieben und schon während des Reibens, d.h. in öfteren Reibpausen, rasch und gut unter den Brei gemischt. Auf diese Weise wird das Apfelfleisch durch den Brei bedeckt und vor Luftzufuhr geschützt, wodurch das weisse, appetitliche Aussehen der Diätspeise erreicht wird. Die Zubereitung soll unmittelbar vor dem Essen geschehen. Die geriebenen Nüsse werden zur Mehrung des Eiweiss- und Fettgehalts bei Tisch aufgestreut.» Dies empfahl um die Jahrhundertwende Max Bircher-Benner (l867-1939), der «radikale Doktor» vom Zürichberg seinen Anhängern und allen Bürgern, die es hören wollten, und dies zu einer Zeit, in der der Konsum von Wurst, Speck und Schweinebauch unaufhaltsam anwuchs. Beim heutigen Griff in die Kühltruhe des Supermarktes nach dem fertig abgepackten Birchermüsli, bzw. seinen fett- und kalorienarmen Verwandten, lässt sich die Radikalität dieser Ernährungslehre kaum mehr erahnen. Der Schweizer Historiker und Journalist Albert Wirz schildert anhand der Ideen und der Lebensgeschichte von Bircher-Benner, sowie seinem amerikanischen Zeitgenossen John Harvey Kellogg (1852 bis 1943) die Revolution bei Tische, deren Siegeszug von den Reformbewegungen der Jahrhundertwende bis zur modernen Fitnesskost reicht. Den Ärzten und Ernährungstheoretikern der Zeit galt der Körper als Maschine bzw. Fabrik, in der Essen in Energie und Leistung umgewandelt wurde. Die Regeln des Essens entsprachen denen der expandierenden industriellen Ordnung einerseits, der damit zusammenhängenden Geschlechterordnung andererseits. Fleisch musste auf den Tisch, galt es doch durch alle soziale Schichten hindurch als Zeichen für Wohlstand und Kraft. Und es verstand sich von selbst, dass dem Vater vom Braten das grösste Stück zustand, Gemüse und Obst waren ein Essen für Frauen und Kinder. Das Wissen um gesundheitliche Aspekte des Essens war minimal, die «Vitaminrevolution», die manche der Ansichten von Bircher-Benner unterstützen sollte, stand noch vor der Tür. Bircher-Benner wollte jedoch mehr als eine Ernährungslehre aufstellen. Er verband seine Vorstellungen vom Essen und vom Körper mit einer allgemeinen Zivilisationskritik. Richtig essen hiess, auch in Harmonie mit der Natur und mit sich selbst zu sein. Die Verdauung nimmt bei ihm geradezu mythische Züge an, der Dickdarm wird zum Schicksalsträger. Krankheit war Ausdruck eines Verstosses gegen die natürlichen Ordnungsgesetze des Lebens, die Bircher-Benner aus den Lebensgewohnheiten seiner bäuerlichen Vorfahren heraus entwickelte. Er sass zwar dadurch einer romantischen Projektion in die Vergangenheit auf, wie dies für viele der wertkonservativen Reformer seiner Zeit der Fall war, denn die gesunde Kost der Vorfahren entpuppt sich bei genauerem Hinsehen mehr als Not denn als Tugend. Zugleich aber gelangen ihm Einsichten, die - von der esoterischen Ordnungssucht befreit - heute zum Allgemeingut nicht nur einer gesunden Ernährung gehören, sondern sich ebenso im Gedankengut einer ganzheitlichen und psychosomatisch orientierten Medizin wiederfinden. Bircher-Benners Lehre wurde noch zu seinen Lebzeiten anerkannt. Sein Sanatorium «Lebendige Kraft», das er seit der Jahrhundertwende am Zürichberg als Familienbetrieb führte, sollte Modell einer besseren Welt sein, und wurde zu einer renommierten Adresse in bürgerlichen Kreisen. Die Gäste mussten sich den asketischen Ordnungsgesetzen und einem streng geregelten Tagesablauf unterwerfen. Zugleich wird hier beispielhaft die Janusköpfigkeit des neuen Umgangs mit dem Körper deutlich, wird doch die «Befreiung» von den Übeln der Zivilisation durch erhöhte Selbstkontrolle erkauft. Gesundheit wird zur neuen Metapher für Leistungsfähigkeit. Während Bircher-Benner versuchte, die Natur auf den Teller zu holen, ging sein amerikanischer Zeitgenosse Kellogg einen anderen Weg. Er wollte die Natur imitieren. Ähnlich wie Bircher-Benner verband er schulmedizinisches Wissen mit einer Vorliebe für naturheilkundliche Methoden. Doch im Gegensatz zu diesem technisierte er Naturerlebnis und Körpererfahrung. Sein in Battle Creek im Staat Michigan errichtetes «Sanitarium», das Bircher-Benners ältester Sohn 1921 besuchte, glich mehr einer Gesundheitsfabrik als einer Kurklinik. Der Keller beherbergte gut eingerichtete Labors, das Kochen sollte zur Wissenschaft werden. Hauptangriffsziel waren jedoch wie bei seinem Schweizer Zeitgenossen Magen und Darm. Dem «Eiweissdogma» des ausgehenden 19. Jahrhunderts rückte er mit Kalorientafeln und «statistischer Kulinarik» zu Leibe, um die Verdauung zu taylorisieren. Mit seinen Cornflakes und einer breiten Palette weiterer Fertigprodukte wird Kellogg, bzw. sein Bruder William zum Begründer der amerikanischen Frühstücksindustrie. Aus heutiger Sicht sind die Gesundheitsprodukte des ehemaligen Adventistenpredigers Vorläufer der Fastfood-Kultur. In seiner detailreichen Schilderung der Lebenswege und Ideensysteme dieser beiden Ernährungs- und Lebensreformer verfolgt Wirz zwei zentrale Thesen. Zum einen zeigt er immer wieder den «Zwiespalt im Kritikansatz der Lebensreformer» auf, indem deren «Auflehnung gegen die Industriegesellschaft [...] sich als ein weiterer Schritt im übergreifenden Prozess gesellschaftlicher Modernisierung» (S. 179) erweist. Zum anderen interpretiert er den Übergang von der männlichen Fleischkost zur weiblichen Gemüse- und Obstkost als Teil einer «Feminisierung der Gesellschaft», die gleichfalls Teil dieser Modernisierung sei. In der heutigen westlichen Welt des Überflusses sind vor allem die Armen dick, die kalorienarme und gesundheitsbewusste Kost ist zur neuen Norm der aufstiegsorientierten Mittelschichten geworden, allerdings bereinigt vom leistungshindernden Ballast einer ganzheitlichen Lebensführung im Sinne von Bircher-Benner und Kellogg. Eine stärker theoretische Fundierung dieser Thesen bleibt Wirz allerdings schuldig, was bei einer vor allem sozialhistorisch angelegten Studie nicht weiter stören würde, wenn Wirz nicht den Anspruch aufstellen würde, die «Ordnung bei Tisch» als eine Mischung von «Essensdiskurs, Körpervorstellungen und sozialer Ordnung» (S. 12) darzustellen. Im Einleitungskapitel wird man dann jedoch mit der blossen Aufreihung einiger bedeutender Theoretiker (Mary Douglas, Clifford Geertz, Norbert Elias, Pierre Bourdieu) abgefüttert, deren halbverdaute Theoriebruchstücke nur als Garnitur dienen und nahtlos in die Schilderung eigener Erfahrungen bei Tisch übergehen. Der Selbstanalyse als einer durchaus legitimen Zugangsweise wird hierbei von Wirz kein guter Dienst erwiesen. Dem theoriekundigen Leser wird daher empfohlen, das erste Kapitel, falls sich Anzeichen einer Magenverstimmung einstellen sollten, zu überschlagen. Der Rest des informationsreichen Buches ist sehr vergnüglich zu lesen. Oliver König (Köln) Traverse 1994/1 (166-168)