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Wohin die Toten gingen

Begräbnis und Kirchhof in der vorindustriellen Stadt

Broschur
1992. 188 Seiten, 98 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-905278-95-8
CHF 48.00 / EUR 27.00 
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Wie gingen unsere Vorfahren mit den Verstorbenen um? Diese Frage versucht Martin Illi in seiner Darstellung der Totenbestattung, der Bestattungsplätze und der Begräbnisrituale in der vorindustriellen Stadt zu beantworten.
Der Autor geht von der Antike und dem Wandel in der frühmittelalterlichen Begräbnistradition aus und befasst sich hauptsächlich mit der Bestattung und einzelnen Aspekten des Totengedächtnisses im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit - Epochen, in denen Tod und Tote im Alltagsleben noch einen festen Platz hatten. Die Studie schlägt den Bogen bis zum Leichenhaus des 19. Jahrhunderts als Rettungsinstitution für Scheintote, zu den Sterbekassen und zur Feuerbestattung.
Das Werk gründet vor allem auf Quellen und archäologischen Befunden aus der Stadt Zürich. Weil der Verfasser jedoch umfangreiches Vergleichsmaterial aus anderen Städten beizieht, wird die Studie zum Modell für die Entwicklung der Totenbestattung in der vorindustriellen Stadt.
Ein Buch, das wegen der immer stärker werdenden Tendenz, den Tod aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen, von grossem Interesse ist.

geb. 1956, arbeitet als Multimediaredaktor beim Historischen Lexikon der Schweiz in Bern sowie als freier Historiker.


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Pressestimmen

MARTIN ILLI
WOHIN DIE TOTEN GINGEN
BEGRÄBNIS UND KIRCHHOF IN DER
VORINDUSTRIELLEN STADT
CHRONOS VERLAG, ZÜRICH 1992, 188 S., 86 ABB.,
FR. 48.-

Wie stellten sich die Menschen in verschiedenen Gesellschaften das Jenseits vor? Woran glaubten sie? Wonach strebten sie? Und vor allem auch: Wie sahen sie ihr Zusammenleben auf Erden? Die Begräbnisstätten verraten es uns wie nur wenige andere Relikte, ja für die meisten Menschen der Prähistorie sind sie sogar die einzigen Zeugen. Nicht verwunderlich deshalb, dass sich auch die seit Philippe Ariès modische Geschichtsschreibung des Todes auf die Auswertung von Gräbern, ihrer Anlage und ihres Schmuckes stützt.
Mit der meist üblichen Verspätung von ein bis zwei Jahrzehnten entdecken auch Geschichtsforschende in der Schweiz diesen Ansatz: Nach einigen volkskundlichen und kunstgeschichtlichen Studien legt Martin Illi mit seiner von Prof. Hans Conrad Peyer betreuten Zürcher Dissertation die erste grössere Arbeit mit sozialhistorischem Anspruch zum Begräbniswesen in unserem Land vor. Aber er betont auch, dass er damit weniger einen Beitrag zur «allmählich unüberblickbaren» Literatur über den Tod in der Geschichte leisten wolle: Martin Illis Interesse gilt vor allem dem Umgang der Lebenden mit den Toten, also dem, was er über eine Gesellschaft im Wandel verrät.
Er warnt davor, «dem Begräbnis- und Friedhofswesen einer vorindustriellen Stadt nur eine marginale Bedeutung zuzumessen»: Angesichts ihrer auch im geographischen Sinn zentralen Position verraten die Stätten für die Toten viel über das gemeinschaftliche Leben in den Städten des Mittelalters und der frühen Neuzeit. «Inwiefern», stellt sich der Forscher deshalb als leitende Frage, «spiegeln die Topographie der Bestattungsplätze und die Gestaltung der Begräbnisrituale die sozialen, kirchlich-religiösen, politischen sowie die verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichen Verhältnisse einer Stadt?»
Als Beispiel nimmt sich Martin Illi die Stadt Zürich vor, deren Entsorgungswesen dem Autor einer originellen Geschichte der «Schissgruoben» besonders am Herzen zu liegen scheint. Er zieht aber auch immer wieder Beispiele aus anderen schweizerischen und süddeutschen Städten heran, einerseits, weil sich die Besonderheiten der lokalen Entwicklung nur im Vergleich mit jener an anderen Orten erkennen lassen, anderseits aber wohl auch - dieser Verdacht drängt sich schnell auf - weil die Quellen in Zürich über weite Strecken nur tröpfeln und deshalb als Grundlage für eine Dissertation kaum ausreichen.
Nicht nur geographisch beschreitet Martin Illi ein weites Feld, er spannt auch zeitlich einen riesigen Bogen von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert, also - um auf seinem Gebiet zu bleiben - von den Katakomben bis zu den Krematorien. Er zeigt in einem ersten Schritt, wie sich die Begräbnisstätten, in der Antike «intra muros» verboten, mit der Christianisierung zu den Gotteshäusern hin verschoben und wie die Kirchhöfe mit den Toten zu den belebtesten Plätzen wurden, wo Asylanten Schutz erhielten, Spielende zusammentrafen oder Gemeindeversammlungen samt anschliessender Schlägerei mit den Holzkreuzen stattfanden.
Um diesen im Hochmittelalter abgeschlossenen Prozess samt seinen Folgen für Zürich zu dokumentieren, interpretiert Martin Illi vor allem die archäologischen Studien. Er stellt die Entwicklung der verschiedenen Begräbnisplätze dar und belegt damit, dass «die Stadt der Toten ebenso facettenreich war wie die der Lebenden». Breit schildert er auch die Rituale der Grablegung, vor allem bei den Chorherren der Oberschicht; für die Mittel- und die Unterschichten stellen sich dagegen «erhebliche Quellenprobleme».
Erst zur Zeit der Reformation liegt reicheres Material vor - weil die Neuerer einem grossen Teil der traditionellen Riten den theologischen Sinn absprachen, sie also abschafften oder gegen hartnäckigen Widerstand bekämpften. So hält Martin Illi als «wichtigstes Ergebnis» fest, dass sich «die Veränderung des theologischen Überbaus auf die Totenbräuche auswirkte»; um die Konflikte zwischen gelehrter Religiosität und Volksglauben oder gar den Mentalitätswandel im Zusammenleben mit den Toten aufzuzeigen, fehlt ihm allerdings wieder das nötige dichte Material.
Die Leitfrage, was die Grabstätten über die Gemeinschaft verraten, findet so nicht immer befriedigende Antworten; an der Arbeit lässt sich auch kritisieren, was ihr Autor an den früheren volkskundlichen oder kunstgeschichtlichen Studien bemängelt: Er breitet sein Material über weite Strecken aus, statt die Betrachtung an einigen Beispielen zu vertiefen; neben der Deskription würde sich der Leser gelegentlich eine Interpretation mit den Mitteln der Soziologie oder der Kulturanthropologie wünschen.
Vorbildlich sind aber die schöne Gestaltung und die reiche Bebilderung der Dissertation: Sie vor allem machen eine Studie mit makabrem Thema zur angenehmen Lektüre.

Markus Schär (Weinfelden)

Traverse 1994/1 (153-154)