Liberal und eigensinnig
Die Pädagogin Josephine Stadlin – die Homöopathin Emilie Paravicini-Blumer: Handlungsspielräume von Bildungsbürgerinnen im 19. Jahrhundert
Gebunden
2011. 640 Seiten, 90 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-1043-6
CHF 68.00 / EUR 68.00 
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«Freiheit» war für Emilie Paravicini-Blumer (1808-1885) das Losungswort, mit dem sie gegen ihre Verheiratung mit einem geistig beschränkten Mann protestierte, den Unabhängigkeitskampf der Polen unterstützte und das therapeutische Monopol der Ärzte zu Fall brachte. «Gleichheit» war der Ausgangspunkt von Josephine Stadlins (1806-1875) Forderung nach einem gesamtschweizerischen Lehrerinnenseminar, ihrer Einmischung in die öffentlichen Schuldebatten und ihrer Ansprüche als pädagogisch und historisch versierte Privatgelehrte.
Ausgehend von einem reichen Fundus an persönlichen Briefen ermöglichen die zwei Biografien eine facettenreiche Annäherung an die Geschichte des liberalen Aufbruchs in Europa. Sie verknüpfen die Formierung des Schweizer Nationalstaats mit den Innenwelten und Handlungstaktiken von Bildungsbürgerinnen und weisen so über deren individuelle Erfahrungen hinaus. Das Verbindende ist das gesellschaftliche Milieu, in der Frage der Existenzsicherung von Frauen zeigen sich jedoch in den beiden Biografien grundlegende Unterschiede: Der Tradition der arrangierten Ehe steht die zukunftweisende berufliche Ausbildung und Erwerbstätigkeit gegenüber.

Elisabeth Joris, geb. 1946, veröffentlichte als freischaffende Historikerin zahlreiche wissenschaftliche Beiträge und mehrere Bücher zur Frauen- und Geschlechtergeschichte der Schweiz, unter anderem zusammen mit Heidi Witzig die Quellensammlung «Frauengeschichte(n)» und die Untersuchung des Alltags im Zürcher Oberland, mit Katrin Rieder und Béatrice Ziegler «Tiefenbohrungen» zur Geschichte der grossen Tunnelbaustellen, 2011 ihre umfangreiche Doppelbiografie zweier Bildungsbürgerinnen aus dem 19. Jahrhundert, der Pädagogin Josephine Stadlin und der Homöopathin Emilie Paravicini-Blumer.


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Inhalt
I Einleitung

II Josephine Stadlin (1806–1875)
Vom Aufbruch als bildungspolitische Mitkämpferin der Liberal-Radikalen zur Pestalozzi-Biografin

1. Familie und Verwandtschaft, Ausbildung und Erwerb
1.1 Familie und Gesellschaft: die Stellung der Familie Stadlin von Zug im Spannungsfeld von Ancien Régime, Französischer Revolution und Restauration
1.2 Geschlecht und Erwerb: Josephine Stadlins Verantwortung als ältestes Kind im familiären Gefüge und die Gestaltung der Erwerbsmöglichkeiten
1.3 Fazit: Bildung als Ressource von Frauen aus dem Bürgertum

2 Schule als politisches Konfliktfeld und Praxis
2.1 Die Kampfgefährtin: Josephine Stadlins Lehrtätigkeit im Kontext des Kampfes um die freisinnige Deutungshoheit
2.2 Das Stadlin’sche Institut: pädagogische Ansprüche, republikanische Orientierung und familienbetriebliche Zwänge
2.3 Fazit: Mädchenbildung als Schnittstelle gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen, pädagogischer Konzepte und wirtschaftlicher Zwänge

3 Netzwerke zur Konsolidierung des Lehrerinnenseminars als öffentliche Institution und privates Unternehmen
3.1 Prolog: Öffentlichkeit als Argument – die Legitimation der Lehrerinnenbildung im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit
3.2 Das Netzwerk als Ressource: berufsspezifische und gesellschaftliche Verankerung durch den Ausbau und die Verdichtung der Beziehungen
3.3 Beschränkte Wirkungskraft des Netzwerks: hoher Mobilisierungsgrad und grosses Konfliktpotential, kurzfristiger Erfolg und langfristiges Scheitern
3.4 Fazit: verweigerte Institutionalisierung der Lehrerinnenbildung Exkurs: Das Lehrerinnenseminar als pädagogisches Experimentierfeld

4 Vielschichtige Beziehungen zu Gefährtinnen und Schülerinnen
4.1 Die Freundin: Asymmetrie und Reziprozität als Strukturelemente der Kooperation zwischen befreundeten Lehrerinnen
4.2 Die Lehrerin: bürgerliche Werte und kontrollierender Druck
4.3 Die Mentorin: Unterstützung der ehemaligen Schülerinnen in ihrer Laufbahn als Lehrerinnen und Erzieherinnen
4.4 Fazit: emotionale Beziehungen als Gemengelage persönlicher, erziehungs- und berufsspezifischer Erwartungen

5 Die Publizistin und Privatgelehrte
5.1 Autorin, Referentin und Expertin: öffentliche Interventionen zu allgemeinen und geschlechterrelevanten Bildungsfragen
5.2 Die Selbstermächtigung der Pestalozzianerin: Reisen ohne männliche Begleitung, Forschen ohne Segen der Akademie
5.3 Ein Platz in der Geschichte: Zeichen öffentlicher Anerkennung trotz widersprüchlicher Resonanz
5.4 Fazit: Positionierung zwischen professionellem Selbstverständnis und gesellschaftlicher Anerkennung

III Emilie Paravicini-Blumer (1808–1885)
Von familiärer Pflichterfüllung und gemeinnützigem Engagement zur eigenen Praxis als Homöopathin

1 Familie und Verwandtschaft, Heirat und Freundschaft als privates und gesellschaftliches Beziehungsgeflecht
1.1 Familie und Gesellschaft: die Stellung der Familie Blumer von Mollis im Spannungsfeld der eigenen Verwandtschaft und des wirtschaftlichen Wandels des Kantons Glarus
1.2 Abhängige Tochter: die Inszenierung der Väter als das Gute und das Böse
1.3 Handlungsmächtige Ehefrau und Schwester: Widersprüche der bürgerlichen Geschlechterordnung
1.4 Freundin und Bekannte: verwandtschaftsübergreifende Beziehungen und das Reden über Befindlichkeiten, Bildung, Gesellschaft und Politik
1.5 Fazit: familiale Gebundenheit und emotionaler Freiraum

2 Weiblichkeit und Männlichkeit im Zeichen romantischen Aufbruchs, liberaler Vernetzung und patriotischer Verortung
2.1 Mann und Frau: Politische Verortung und emotionale Einbindung im Bürgertum und in der Bildungselite
2.2 Heimat und Beheimatungen: Selbstentwurf als radikale Patriotin, liberale Europäerin und religiöse Moralistin
2.3 Solidarität und Engagement: politischer und persönlicher Einsatz für die Freiheit der Polen
2.4 Frauenpartizipation und Frauenvernetzung: Gemeinnützigkeit als Verpflichtung und Möglichkeit öffentlichen Handelns
2.5 Fazit: weibliche Sinnhorizonte vom europäischen Freiheitsstreben bis zur lokalen Gemeinnützigkeit

3 Vom Reden über den Körper zur homöopathischen Praxis
3.1 Leiden: die Erörterung der körperlichen Befindlichkeit als Kitt eines emotional geprägten Beziehungsnetzes
3.2 Diagnostizieren: das Pflegen der Verwandtschaft als Verpflichtung und Initiation in die Homöopathie
3.3 Kurieren: die informelle Praxis der Emilie Paravicini-Blumer als uneigennützige Helferin der Armen
3.4 Verorten: der Zugang zur Profession und die Unterschiede zwischen den ersten Ärztinnen und Emilie Paravicini-Blumer
3.5 Fazit: Deutung von Mitfühlen als soziale Einbindung, von therapeutischem Handeln als karitative Gemeinnützigkeit

4 Die Glarner Auseinandersetzung über die Zulassung zum Arztberuf
4.1 Hinter den Kulissen: das Gerichtsverfahren oder die Anklage als Auslöser zur Inszenierung der öffentlichen Debatte
4.2 Auf öffentlicher Bühne: die Unwägsamkeit der Landsgemeinde oder die Fehlkalkulation von Fridolin Schuler
4.3 Fazit: Beziehungsstrukturen und Netzwerke als dynamische Elemente der Entscheidungsfindung

Exkurs: Der Prozess gegen Dorothea Trudel vor dem Zürcher Obergericht

5 Beschränkte Ausweitung und deutende Wahrnehmung weiblichen Agierens im Rahmen bürgerlicher Geschlechterkonzepte
5.1 Die frei praktizierende Homöopathin: der Beruf als Verpflichtung
5.2 Krankheit und Tod: Ambivalenzen in Haltung und Deutung
5.3 Fazit: Einbindung der persönlichen Ambitionen in das christlich-bürgerliche Referenzsystem

IV Das Paradox der doppelten Zugehörigkeit
Ergebnisse

Anmerkungen
Bibliografie
Bildnachweis
Personenregister

Pressestimmen
«zwei spannende Frauenportraits» work

«Eines wird aber überall deutlich: Den «leisen Weg» zur Gleichberechtigung – kein Aufruhr, kein Heldentum, keine Agitation – durch ein «just do it» und das zähe Arbeiten an dessen Erweiterung hat die Autorin durch die «Biographisierung» zweier höchst eindrucksvoller Frauengestalten eindrücklich und spannend dargestellt.» Diemut Majer, Das Historisch-Politische Buch

«Joris breitet die beiden Biografien souverän aus und analysiert stets sorgfältig abwägend, klug und stringent – ein grosses Lesevergnügen!» Iris Blum, Schweizerische Ärztezeitung