Entwicklung heisst Befreiung

Erinnerungen an die Pionierzeit der Erklärung von Bern (1968–1985)

Broschur
2008. 336 Seiten, 60 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-0917-1
CHF 36.00 / EUR 22.00 
  • Kurztext
  • Autor/in
  • Einblick
  • In den Medien

Entwicklung heisst Befreiung: Das ist das Credo der Erklärung von Bern (EvB, heute Public Eye), einer unabhängigen entwicklungspolitischen Organisation, die sich bis heute zum überwiegenden Teil aus den Mitgliederbeiträgen finanziert und nach wie vor basisdemokratisch funktioniert. Seit 1968 setzt sie sich mit viel Sachkenntnis für ein besseres Verständnis der armen Länder des Südens, für faire Handelsbeziehungen, nachhaltige Entwicklung und weltweite Biodiversität ein.

Doch wie ist die EvB entstanden und wer hat sie gegründet? Wer stand dahinter und wer hat sie in Schwung gebracht? Und was hat die Leute, die sich in den fünfziger und sechziger Jahren für Entwicklungspolitik einsetzten, bewegt? Anne-Marie Holenstein und Regula Renschler bildeten zusammen mit Rudolf Strahm das Team der EvB, das den Grundstein legte für eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Bis in die achtziger Jahre prägten die beiden Frauen Arbeit und Gesicht der EvB. Sie erzählen ihre persönliche Geschichte mit der Erklärung von Bern, berichten von Erfolgen und Misserfolgen, von Reisen zu den Partnern in der Dritten Welt, von weltweiten Netzwerken und der Knochenarbeit daheim. Sie vermitteln auch ein Zeitbild der Drittweltszene, inner- und ausserhalb der Schweiz. Hier wird Zeitgeschichte, Geschlechtergeschichte, Geschichte alternativer Bewegungen, Organisationsgeschichte und Biografik in einem geboten. Ein äusserst vielschichtiges Buch, das weit über die EvB hinausgeht: das dokumentiert, wie einerseits mit Kompetenz, Engagement und Hartnäckigkeit nachhaltige Veränderungen erzielt werden können und wie andererseits manche Probleme ungelöst geblieben und aktueller denn je sind.


Anne-Marie Holenstein war erste Sekretärin der Erklärung von Bern (1969–1974) und dort bis 1982 Leiterin des Fachbereichs «Ernährung – Landwirtschaft – Ökologie». Redaktorin beim Radio in den Bereichen Landwirtschaft, Kultur und Dritte Welt, 1995–2000 Direktorin von «Fastenopfer». Jetzt freiberuflich tätig.


Regula Renschler war Auslandredaktorin diverser Tageszeitungen. 1974–1985 Sekretärin der Erklärung von Bern, dort Leiterin des Fachbereichs «Rassismus – Ethno­zentrismus – Kulturbegegnung». Ab 1985 Redaktorin bei Radio DRS als Fachfrau für ande­re Kulturen und Minderheiten. Berufliche Reisen nach Afrika, Lateinamerika und Asien. Jetzt als Publizistin und Übersetzerin tätig.


Sekretär der Erklärung von Bern 1974–1978, dort Leiter des Fachbereichs «Wirtschaft – Finanzplatz Schweiz». Zentralsekretär der SP Schweiz 1978–1985, Gründer und Geschäftsführer der Koordinationsstelle der schweizerischen Umweltorganisationen 1992–1997, Mitglied des Nationalrats 1991–2004, Preis­überwacher 2004–2008.

Inhalt

Vorwort

Erster Teil
DIE ANFÄNGE DER ERKLÄRUNG VON BERN 1968–1974
DIE PIONIERINNEN UND IHRE GESCHICHTE

ANNE-MARIE HOLENSTEIN
Vom Manifest der Theologen zur politischen Praxis
- Die Gründungsgeschichte
- Aktion und Provokation
- Die EvB als Resonanzraum und Verstärkeranlage
- Bananenfrauen 1972–1973
- Durch eine Wachstumskrise zum Dreierteam 1973–1974
- Auszeit 1974: Welternährung als neue Herausforderung

REGULA RENSCHLER
Im Ringen um ein neues Verständnis der Welt 1956–1974
- «Wahret die Freiheit»
- Journalistin und erste Erfahrungen in Afrika
- Vorbilder und Quellen der Inspiration

Zweiter Teil
IM DREIERTEAM ZUR ENTWICKLUNGSPOLITISCHEN AKTION 1974–1985

RUDOLF STRAHM
Der aktionserprobte Achtundsechziger im Team der EvB 1974–1978
- Ausbrechen aus religiöser Enge und dem «Sonderfall Schweiz»
- Der Leitspruch «Aktion – Reflexion – Aktion» auf dem Prüfstand
- Die Kaffee-Aktion Ujamaa
- Von der Aktion «Jute statt Plastic» zu Fairtrade
- Kapitalflucht aus Entwicklungsländern als Politikum
- Das Ringen um das Bundesgesetz über Entwicklungszusammenarbeit (EZA)
- Vom Erbe Christoph Eckensteins zur Auseinandersetzung mit multinationalen Konzernen
- Weggang nach vier Jahren

ANNE-MARIE HOLENSTEIN
Networkerin und Koordinatorin im Bereich Ernährung 1974–1982
- Im internationalen Netzwerk der IPRA «Food Group»
- Befreiung vom Zuwenig und vom Zuviel 1975–1987
- Exkurs: Kündigungen, Neubesetzungen, Wachstum und Spannungen 1978–1979
- Globaler Supermarkt und Hunger 1979–1981
- Weggang nach dreizehn Jahren

REGULA RENSCHLER
Kulturvermittlerin und Kämpferin gegen Rassismus 1974–1985
- Erziehung zur Solidarität – geht das? 1974–1979
- Tourismus und Dritte Welt: ein Thema der Entwicklungspolitik 1976–1979
- «Für eine gerechte, partizipatorische und nachhaltige Gesellschaft» 1979–1981
- Literatur gegen Rassismus
- Die Tourismuskritik wird international 1980–1986
- Sextourismus und Frauenhandel 1981–1985
- Die Gründung des «Dritte Welt – Frauen-Informationszentrum» (FIZ) 1983–1985

KONRAD KUHN
Bewusstseinsbildung für globale Gerechtigkeit: die Bedeutung der Erklärung von Bern als zivilgesellschaftliche Akteurin.
Ein Schlusswort

Gleiche Mission, andere Mittel: Möglichkeiten und Grenzen der Professionalisierung von Pionierarbeit. Ein Epilog aus der Sicht der heutigen Erklärung von Bern


Pressestimmen

Die Publikation «wirft einen kritischen Blick auf zwei Jahrzehnte Schweizer Entwicklungspolitik, deren Themenfelder von damals bis heute eine grosse Aktualität aufweisen. Gleichzeitig dokumentiert das Buch das soziale und politische Klima der Schweiz zwischen 1968 und 1985 aus der persönlichen Perspektive der Autoren. Die gelungene Verknüpfung einer Organisationsgeschichte mit einem biographischen Ansatz vermittelt so ein interessantes Stück Zeitgeschichte.»
(Nuno Pereira, Renate Schär in Berner Zeitschrift für Geschichte)


Wer sich für Entwicklungspolitik und für das Verhältnis der Schweiz zur Dritten Welt interessiert, wer etwas darüber lernen will, wie Aufklärung und Bewusstseinsbildung funktioniert, muss dieses Buch unbedingt lesen. (NZZ am Sonntag)


Das gut dokumentierte Buch belegt, wie stark in den 70er-Jahren der entwicklungspolitische Diskurs, die Frauenbewegung, der Aufbruch der 68er und die Umweltschutzbewegung sich gegenseitig befruchteten und in bisweilen chaotischer Manier verstärkten. In sehr persönlichen Passagen berichten die Autoren und EvB-Pioniere auch über ihre eigene Entwicklung und Befreiung. (Tages-Anzeiger)


Ein wertvolles Stück Zeitgeschichte (WOZ)


Anschaulich berichten die Autorinnen und der Autor über EvB-Aktionen wie «Jute statt Plastik» und «Ujamaa-Kaffee». Sie analysieren auch das gewandelte Bewusstsein im Bereich der Entwicklungshilfe. Das Buch weckt nicht nur nostalgische Gefühle, sondern regt dazu an, die heutigen Beziehungen zum «Süden» neu zu überdenken. (Aufbruch, Zeitschrift für Religion und Gesellschaft)


Die drei Autoren schildern aus sehr persönlicher Sicht und anhand von Dokumenten, wie sie ihren Zielen Schritt für Schritt näher kamen. ... Das geschieht ohne Eigenlob, sondern selbstkritisch und ohne Scheu, Niederlagen und Fehlentwicklungen einzugestehen. (welt-sichten)


Wertvoll ist dieses Buch nicht nur als Dokumentation der Anfänge einer politisch wichtigen Organisation. ... Fast noch interessanter sind die Einblicke in die persönlichen Entwicklungswege der drei Leute, denen die «Erklärung von Bern» ihr frühes Profil verdankt. (Neue Wege)


Drei besonders interessante Punkte: Man kann (in diesem Buch) die Erklärung von Bern endlich mal lesen. ... Die Geschichte dürfte bei vielen LeserInnen Aha-Effekte auslösen und an eigene Erlebnisse erinnern. ... Es ist ein Kapitel Frauengeschichte. (Frauenstimme)


Besprechungen

Eine Bewusstseinsveränderung hat stattgefunden

Die Erklärung von Bern (EvB) ist vierzig geworden. Am 10. Januar 1969 hatte sie mit der Übergabe eines Manifests und über tausend Unterschriften an Bundesrat Willy Spühler ihren ersten Auftritt. Ihre Geschichte ist auch die Geschichte des entwicklungspolitischen Aufbruchs der Schweiz, nachgezeichnet im Buch „Entwicklung heisst Befreiung“. Die Autoren Anne-Marie Holenstein, Regula Renschler und Rudolf Strahm waren am 2. April in der DEZA-Traverse zu Gast. Im Gespräch ziehen sie eine kritische Bilanz ihres Wirkens. Interview: Thomas Jenatsch

Vor 40 Jahren hat die Erklärung von Bern (EvB) 3% des Volkseinkommens für Entwicklungszusammenarbeit (EZA) gefordert. Heute unterstützt die EvB die Petition der Hilfswerke für 0,7%. Seid ihr realistischer geworden?
Anne-Marie Holenstein: Da muss ich intervenieren. Die Initianten der EvB haben nicht in erster Linie für eine Erhöhung der Entwicklungshilfe plädiert. Sie forderten, die Entwicklungshilfe müsse vor allem geistige, wirtschaftliche und soziale Strukturen verändern, die Entwicklung verhindern. Und sie versprachen: Solange die Schweiz zum Beispiel ihre Militärausgaben nicht reduziert und die Waffenausfuhr nicht strikte beschränkt, geben wir, um glaubwürdig zu sein, drei Prozent unseres Einkommens für Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik aus.
Regula Renschler: Die heutige EvB hat die Linie, die wir anfangs der 70er Jahre initiiert haben, weitergeführt. Bis heute setzt ihre Politik grundsätzlich an zwei Punkten an, die eng miteinander verknüpft sind: Strukturveränderung in unserer Gesellschaft und Bewusstseinsbildung: Es gibt keinen Fortschritt in den armen Ländern des Südens, wenn bei uns nicht Strukturen verändert werden. Damit dies auch nachhaltig ist, braucht es zweitens eine Veränderung der Mentalität.
Rudolf Strahm: Das war eine Herausforderung für die Schweizer Politik, die geprägt war vom isolationistischen Denken des zweiten Weltkriegs. Wir waren neutral und faktisch abgeschottet. Heute ist es kaum noch zu verstehen, von welch geistiger Enge die Schweizer Aussenpolitik der Nachkriegszeit geprägt war. Um diese Enge zu überwinden, brauchte es einen tiefgreifenden Umdenkensprozess.

Ist der Ausbruch aus der Enge geglückt?
Rudolf Strahm: Ja. Wir haben zwar viel nicht durchgesetzt. Aber in der Wirtschafts- und Aussenpolitik haben wir meines Erachtens schon einen Paradigmenwechsel erlebt.
Anne-Marie Holenstein: Es ist natürlich schwer nachzuweisen, was die EvB als politische Bewegung erreicht und was sich durch die globale Veränderung ergeben hat. Die globalisierte Welt nach dem Kalten Krieg hat die Schweiz gezwungen, eine andere Aussenpolitik zu betreiben.
Rudolf Strahm: Das jüngste Beispiel ist das Bankgeheimnis. Die EvB hat dies schon früh zum Thema gemacht. Dreissig Jahre lang war das deponiert und plötzlich ist innert weniger Monate mehr passiert, als in den 30 Jahren davor. Aber nicht dank uns – die Geschichte hat uns eingeholt.
Regula Renschler: Ich sehe einen grossen Fortschritt durch die Globalisierung und die neuen Medien: Über alle Kontinente hinweg ist es heute möglich, gemeinsame Aktionen zu organisieren und durchzuführen. Es gibt heute eine entwicklungspolitisch engagierte Elite, die viel breiter ist, als sie zu unserer Zeit war. Aktionsfähig ist sie auch dank den neuen Medien.
Anderseits setzt sich diese Elite gegenüber den wirklich Armen immer mehr ab. Im Vergleich zu früher liegt der Unterschied weniger zwischen Nord und Süd, sondern zwischen Oben und Unten. Dieser Graben vergrössert sich stetig.

Welches ist der grösste Erfolg, den die EvB für sich beanspruchen kann?
Anne-Marie Holenstein: Sie hat seit 1974 in der Hungeranalyse eine Pionierrolle gespielt. Ich möchte das am Beispiel Ernährung und Konsum illustrieren. Ende der 70er Jahre nahmen wir mit Konsumentenaktionen die Grossverteiler und ihre Import- und Preispolitik mit Produkten aus der Dritten Welt aufs Korn. Wir lancierten eine symbolische Aktion mit Ananas aus den Philippinen, um an diesem Beispiel zu zeigen, in welchem Kontext eine solche Ananasbüchse steht. Wir thematisierten die Diktatur des Marcos-Regime, ihre repressive Politik gegen Landarbeiterbewegungen, die Politik der Nahrungsmittelkonzerne wie Del Monte und schliesslich unsere Rolle als Konsumenten.

Ihr wart die eigentlichen Vorreiter des Fair Trade?
Anne-Marie Holenstein: Ja, wobei wir als Vorreiter breite Allianzen gebildet haben, zum Beispiel mit Schweizer Hilfswerken, die in den neunziger Jahren das Label „Max Havelaar“ gründeten.
Regula Renschler: Die EvB hat Diskussionen über Probleme lanciert, die danach von anderen aufgenommen und weitergeführt worden sind und schliesslich eine Eigendynamik entwickelt haben. Erfolgreich war unser Engagement gegen Rassismus und Ethnozentrismus. Wir sind das Thema in verschiedenen Bereichen angegangen, in der Literatur, in den Schulen, in der Lehrerausbildung, in den Medien und in der Werbung. Ich bin überzeugt, dass hier eine Bewusstseinsveränderung stattgefunden hat. Der grösste Erfolg ist denn auch, dass ein kleines Team mit sehr wenig Mitteln auf einer breiten Basis viele Themen anstossen konnte, die damals von niemandem aufgegriffen wurden und heute auf der Agenda der UNO stehen, wie beispielsweise der Frauenhandel oder der 3.Welt-Tourismus.
Anne-Marie Holenstein: Die EvB hat eine wichtige Rolle im Agenda-Setting gespielt. Sie war oft die Erste, die ein Thema auf die innen- und aussenpolitische Agenda gebracht hat und andere sind dann mitgezogen.
Rudolf Strahm: Ich möchte die Themenvielfalt unterstreichen: Die Drittwelt-Läden wurden gegründet, die noch heute als claro-Läden existieren, das EZA-Gesetz wurde geschaffen, das bis heute als gesetzliche Grundlage dient, die Fluchtgeldfrage und die Potentatengelder wurden schon damals thematisiert. Hier hatten wir vorerst einen Misserfolg, aber heute holt uns das Thema ein. Durch die Bewegung wurde das Selbstbild der Schweiz, sie würde ein kleines Herrenvolk beheimaten, das besser ist, als der Rest der Welt, in Frage gestellt. Ohne diese Bewegung gäbe es die EZA im heutigen Sinne nicht.
Anne-Marie Holenstein: Das Stichwort Bewegung müssen wir betonen: Wir waren zwar alle drei Einzelkämpfer, aber Teil dieser ganz wichtigen Bewegung in der Schweizer Zivilgesellschaft der siebziger Jahre. Es war ein unglaublicher Umbruch.
Rudolf Strahm: Aus meiner fast fünfzigjährigen aktiven Wahrnehmung der Schweizer Politik ziehe ich den Schluss, dass die Schweiz durch die Zivilgesellschaft vorangebracht worden ist. In den Bereichen aussenpolitische Öffnung, Drittwelt-Politik, Umweltpolitik und Frauenpolitik kamen die Impulse weder von den grossen Organisationen noch von gouvernamentalen Strukturen – sie sind auf das Wirken der NGO’s und der Zivilgesellschaft zurückzuführen.

Bis in die neunziger Jahre zählte die Entwicklungszusammenarbeit auf die Unterstützung sowohl von linken wie bürgerlichen Eliten. Heute wird sie vermehrt in Frage gestellt. Wo liegt das Problem?
Rudolf Strahm: Die Entwicklung im Süden ist anders verlaufen, als dass man sich dies idealistischerweise vorgestellt hat.
Regula Renschler: In den sechziger und siebziger Jahren war eine romantische Beziehung zur Dritten Welt verbreitet. Wir haben von der Dritten Welt die Erneuerung der Welt erwartet.
Anne-Marie Holenstein: … und auch des Menschen.
Regula Renschler: Genau. Der umgekehrte Rassismus, der besagte, dass jeder Schwarze gut ist, hat meiner Meinung nach verhindert, dass die Korruption, die ja schon in den 60er Jahren begann und zu der die Industrieländer das ihre beigetragen haben, von unabhängiger Seite – auch von der EvB – angeprangert wurde. Man liess dies bis hin in die neunziger Jahre zu, und daran haben wir noch heute zu nagen.
Anne-Marie Holenstein: Du meinst, dass dies eine falsche Schonung war?
Regula Renschler: Ja. Was Mobutu angestellt hat, das wusste man schon lange. Aber niemand hat das denunziert und niemand hat interveniert – weil er ein Afrikaner war und man wollte das respektieren.
Rudolf Strahm: Das Entwicklungshilfegesetz ist auf die Förderung der Ärmsten ausgerichtet. Lange Zeit wurde dies zu wenig berücksichtigt. Heute ist es wieder ein Thema. Die Leute fragen sich, ob die Hilfe wirklich den Ärmsten zu Gute kommt oder ob sie nicht auch der Eliteförderung und der Korruption dient. Deshalb ist die EZA in einer gewissen Legitimationskrise.

Wie muss Entwicklungszusammenarbeit gestaltet werden, damit sie die Glaubwürdigkeit zurückgewinnt?
Regula Renschler: Ich befürchte, dass sich die Entwicklungshilfe insofern technisiert, als dass immer weniger Leute, die in der EZA tätig sind, direkte Felderfahrung haben. Dadurch steigt die Gefahr, dass echte Verständigung zwischen den Ärmsten der Armen und uns verloren geht. Ich habe das Gefühl, dass die Afrikaner wahrscheinlich ein anderes Gesellschaftsmodell wollen in ihren Ländern.– sie verweigern sich so stark gegenüber unseren Modellen. Aber wir haben es verpasst, mit ihnen in einen wirklichen Dialog zu treten.
Zudem glaube ich, dass die Schweiz ihre Leistungen im Bereich der Menschenrechte und Demokratisierung ungenügend kommuniziert. Demokratisierung ist bei uns sehr hoch angesiedelt Wieso bringt man die Menschen in der Schweiz nicht von der Vorstellung „Entwicklungshilfe gleich Brunnenbau“ weg: Sowohl die Hilfswerke als auch die offizielle EZA haben zu wenig unternommen, um dieses Klischee zu entkräften.
Rudolf Strahm: Die DEZA muss mehr machen im Bereich Berufsbildung. Das schweizerische Berufsbildungssystem könnte dabei als Exportmodell dienen. Die Investition in die Berufsbildung erzeugt im Vergleich die höchste Wertschöpfung. Ich möchte daran erinnern, dass in der deutschsprachigen Schweiz 70% der Jugendlichen ihre Berufskarriere mit einer Berufslehre beginnen und dies ein Teil unserer wirtschaftlichen Stärke ist.

Das Buch „Entwicklung heisst Befreiung – Erinnerungen an die Pionierzeit der Erklärung von Bern“ ist 2008 im Chronos Verlag erschienen.

Gespräch im Rahmen der Veranstaltung traverse der DEZA (http://www.deza.admin.ch/de/Home/Aktuell/News_Detailansicht?itemID=177847)

Pünktlich zum 40-jährigen Bestehen der Nichtregierungsorganisation Erklärung von Bern (EvB), der zentralen entwicklungspolitischen Lobby- und Kampagnenorganisation der Schweiz, veröffentlichen Anne-Marie Holenstein, Regula Renschler und Rudolf Strahm, die renommierten Vorkämpferinnen und Vorkämpfer der EvB, ihre Erinnerungen an die Pionier­zeit von 1968 bis 1985. Sie verfolgen mit dieser Publikation die Ziele, «ein Stück Zeit­geschichte festzuhalten» und das «his­torische Gedächtnis der Erklärung von Bern sichern [zu] helfen». (8) Das Autorentrio versteht sich dabei explizit nicht als Historikerinnen und Historiker, son­dern als Zeitzeuginnen und Zeitzeuge.
Entsprechend beschreiben Holenstein, Renschler und Strahm ihre Tätigkeit bei der EvB aus der Ich-Perspektive und stüt­zen sich dabei in erster Linie auf ihre Er­innerungen sowie auf persönliches Archivmaterial. Zudem räumen sie ihren individuellen Lebensgeschichten viel Platz ein. Das Buch ist damit mehr als eine Innenansicht der Entstehung, der Funk­tionsweise und der Wirkung der EvB. Gerade mit dem biografisch geprägten Ansatz liefert es auch lebendige Einblicke in das persönliche Umfeld der ersten Generation von jungen Erwachsenen in der Schweiz, die sich intensiv mit der Dekolonisation Afrikas und Formen der aufkommenden Entwicklungszusammenarbeit befasste und zahlreiche entwicklungspolitische Dis­kussionen in der Schweiz mitprägte. Es zeigt deren jeweils spezifische Lebenswirklichkeit in der Schweiz der 1960er- und 70er-Jahre auf und schildert plastisch den Arbeitsalltag in der neuen Organisa­tion. Darüber hinaus liefert das Buch auch einen Überblick über die entwicklungs­politisch engagierte Szene der Schweiz zur Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs nach 1968.
Anne-Marie Holenstein, Regula Rensch­ler und Rudolf Strahm bezeichnen sich selbst als «Einzelkämpferinnen und Macher». (203) Das Trio arbeitete bei der EvB entsprechend unabhängig voneinander, was sich in der gewählten Struktur des Buchs spiegelt und diese inhaltlich auch rechtfertigt. Die Kapitel sind jeweils von einer Person geschrieben; trotz zeitlicher Überschneidungen bringen alle Teile dank der unterschiedlichen Perspektive eigenständige Erkenntnisse; Wiederholungen ergeben sich nur wenige.
Die EvB wurde 1968 von einer Gruppe reformierter Theologen in Form eines Manifests über die Beziehungen zwischen der Schweiz und den Entwicklungsländern gegründet. Über 1000 Personen unterzeichneten dieses Manifest, das den Bundesrat bat, «alles zu tun, was die Schweiz aus ihrem Skeptizismus und unentschiedenen Zögern hinsichtlich der Hilfe für die Dritte Welt herausführen kann». (327) Nationale Aufmerksamkeit erhielt das Manifest, weil sich die unter­zeichnenden Personen verpflichteten, drei Prozent ihres Einkommens für die Entwicklungszusammenarbeit zu spenden. 1971 wurde die EvB zu einem Verein, der heute rund 20’000 Mitglieder zählt.
Anne-Marie Holenstein kam unver­sehens zur EvB und arbeitete zwischen 1969 und 1974 als erste Sekretärin der Organisation. Sie beschreibt zunächst die von Improvisation geprägte Anfangszeit sowie wichtige Meilensteine der Schweizer Entwicklungspolitik, darunter die Interkonfessionelle Konferenz Schweiz – Dritte Welt von 1970. Zudem schildert sie die ersten politischen Kampagnen der EvB, die sich gegen den Bau des Cabora-Bassa-Staudamms in Mozambik und Schweizer Waffenausfuhren richteten. Mit der Initiative für ein Waffenausfuhrverbot, die 1972 nur äusserst knapp verworfen wurde, lieferte die EvB erstmals den Tatbeweis für ihre Mobili­sierungskraft. Viel Platz finden hier auch die ersten Schritte der für spätere Initia­tiven wegweisenden, legendären «Frauenfelder Bananenaktion». In ihrem zweiten Beitrag widmet sich Holenstein, die 1974 bis 1982 Leiterin des Fach­bereichs Er­nährung – Landwirtschaft – Ökologie war, hauptsächlich dem Hungerproblem in den Entwicklungsländern, das für sie immer aufs Engste mit der Sattheit des Nordens verknüpft war.
Rudolf Strahm stiess 1974 zur EvB und hatte dort bis 1978 die Position des Leitenden Sekretärs inne. Gleichzeitig war er Leiter des Fachbereichs Wirtschaft – Finanzplatz Schweiz. Er beschreibt die Kaffee-Aktion «Ujamaa», die Aktion «Jute statt Plastic» sowie die Mitarbeit der EvB bei der Erarbeitung des 1976 verabschiedeten und bis heute gültigen Bundes­gesetzes über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe. In einem Exkurs fasst er damals aktuelle entwicklungstheoretische An­sätze zu­sammen und geht zudem auf seine Aktionen in den Bereichen Kapitalflucht und Unternehmenspolitik multinationaler Konzerne ein.
Regula Renschler stellt im ersten ihrer zwei Beiträge ihr Ringen um ein neues Verständnis der Welt zur Zeit der De­­ko­loni­sation dar und zeichnet gleichzeitig aus einer persönlichen Perspektive das Erwachen der Schweiz in den Bereichen «Entwicklungshilfe» und «Dritte Welt» nach. Sie fing ebenfalls 1974 bei der EvB an und war bis 1985 Leiterin des Fachbereichs Rassismus – Ethnozentrismus – Kultur­begegnung. In ihrem zweiten Kapitel geht sie auf ihre bahnbrechende Arbeit im Bereich Kinder- und Jugendliteratur ein sowie auf die Tourismusproblematik und die gewaltigen Herausforderungen durch Sextourismus und Frauenhandel.
Insgesamt skizziert das Buch am Beispiel der EvB und ihrer zahlreichen Aktionen und Kampagnen die Geschichte des entwicklungspolitischen Aufbruchs in der Schweiz nach 1968. Es zeigt auf, wie Einzelpersonen und Organisationen – allen voran die EvB – mit gezielten Aktionen versuchten, Armut und Reichtum beziehungsweise Peripherie und Zentrum zueinander in Beziehung zu setzen und Strukturveränderungen in der Schweiz zugunsten der Menschen in Entwicklungsländern herbeizuführen. Zur Schilderung dieses Aufbruchs eignet sich die EvB besonders: Zum einen vereinte die Organisation durch ihre personelle Zusammensetzung und ihre Arbeit befreiungstheologische Denkansätze mit dependenztheoretischen Entwicklungskonzeptionen. Zum andern funktionierte sie als «Resonanzraum und Verstärkeranlage» zahlreicher loser Ini­tiativen und Aktionen, leistete unersetzbare Vernetzungsarbeit und beeinflusste damals wie heute die entwicklungspolitischen Debatten in der Schweiz entscheidend.
Mit seinen «Erinnerungen an die Pionierzeit» hat das Autorentrio die bis­herigen spärlichen Beiträge zur Geschichte der EvB und zu einzelnen Aktionen und Kampagnen mit wertvollen Fakten-, In­sider- und Hintergrundkenntnissen ergänzt. Besonders deutlich wird in diesem Buch die enge Verschränkung zwischen Entwicklungsanliegen und Frauenemanzi­pation in der Schweiz. Mit den packenden und reich bebilderten Zeitzeugenberichten und der Übergabe des privaten Archiv­materials an das Schweizerische Sozialarchiv in Zürich ist viel Wissen gesichert und eine solide Grundlage für weitere Forschungen geschaffen worden.

Lukas Zürcher (Zürich) in Traverse 2009/3