Nacht-Leben
Orte, Akteure und obrigkeitliche Disziplinierung in Zürich, 1523–1833
Gebunden
2007. 512 Seiten
ISBN 978-3-0340-0861-7
CHF 68.00 / EUR 44.80 
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Der Einbruch der Nacht wurde im frühneuzeitlichen Zürich von den Hochwächtern auf dem St. Peter mit Trompeten angekündigt, und mit dem Läuten der Wacht- und Torglocken mussten die Stadttore geschlossen werden. Spätestens nach dem Tavernenschluss sollte sich die Bewohnerschaft in die eigenen Häuser zurückziehen und die Stadt völlig zur Ruhe kommen. So stellte sich dies die Zürcher Obrigkeit zumindest vor.
Tatsächlich traten jedoch mit Einbruch der Dunkelheit die unterschiedlichsten Akteure auf den Plan. Die vorliegende Untersuchung beschreibt anhand zahlreicher bisher nicht erforschter Quellen das nächtliche Treiben einzelner Gruppierungen sowie die Nachtvergnügungen gewöhnlicher Bürgerinnen und Bürger.
Auf der anderen Seite versuchte die Obrigkeit ihre strengen Ordnungsvorstellungen durchzusetzen, indem sie eine Unmenge von Bestimmungen für die Nachtzeit erliess sowie zahlreiche städtische Ordnungsorgane einsetzte. Mit dem Einmarsch französischer und österreichischer Truppen in der Zeit der Helvetik wurde die Zürcher Regierung jedoch zum Umdenken gezwungen. Die Stadt Zürich sah sich plötzlich mit den Forderungen nach einer Strassenbeleuchtung und einem Theater konfrontiert, hatte gegen die Prostitution zu kämpfen und sich mit fremden Ordnungshütern zu arrangieren.
Die vorliegende Studie analysiert erstmals im deutschsprachigen Raum das Nachtleben einer Kleinstadt mit all seinen Facetten über einen Zeitraum von rund 300 Jahren. Spezielle Aufmerksamkeit kommt dem alltäglichen Widerstand der Stadtbewohner gegen die obrigkeitlichen Disziplinierungsversuche zu. Das Buch erhält eine besondere Spannung durch das Aufzeigen der Diskrepanz von Norm und Wirklichkeit und richtet sich an ein breites Publikum, das an der Geschichte der Stadt Zürich interessiert ist.

Geb. 1965. Studium der Allgemeinen Geschichte und Philosophie an der Universität Zürich. Seit 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Stadtarchiv Zürich.

Inhalt
1 Einleitung

2 Das Zürcher Nachtleben in der Frühen Neuzeit
2.1 Die Sorge der Zürcher Obrigkeit um die Sicherheit in der Finsternis
2.2 Die Orte und Akteure des Nachtlebens aus Sicht der Zürcher Obrigkeit
2.3 Mandate als obrigkeitliche Massnahme zur Disziplinierung der Nachtschwärmer
2.4 Massnahmen und Vollzugsschwierigkeiten im Bereich der Zürcher Stadtwache
2.5 Die geschlossene Stadt als Massnahme zur Disziplinierung des Nachtlebens

3 Das Zürcher Nachtleben von der Helvetik bis zur Schleifung der Schanzen
3.1 Neue Phänomene prägen das Zürcher Nachtleben
3.2 Neue Aspekte der nächtlichen Sicherheit
3.3 Die Einführung der Zürcher Strassenbeleuchtung
3.4 Neue und alte Ordnungsorgane und ihre Vollzugsprobleme
3.5 Die Öffnung der Stadt

4 Zusammenfassung und Forschungsergebnisse

Pressestimmen
«Casanova legt eine hervorragend recherchierte Langzeituntersuchung über das Zürcher Nachtleben vor. […] Die Studie ist theoretisch plausibel verankert und überzeugt durch ihren aussagekräftigen Materialreichtum gleichermassen wie durch ihre narrative Struktur und sozialgeschichtliche Argumentation.» Lukas Gschwend, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte

«Insgesamt also ist das Buch sehr zur Lektüre zu empfehlen: Man erfährt viel über ein bisher im Dunkeln liegendes Phänomen – die Zürcher Stadtarchive scheinen voller Schätze, die gehoben werden sollten.» Birgit Althans, Zeitschrift für pädagogische Historiographie

Besprechungen
Studien zur Nacht neigen zur Neoromantik. Christian Casanova beweist, dass sorgfältige Quellenarbeit nächtliche Phänomene besser zu klären vermag. In seiner Dissertation untersucht er das Zürcher Nachtleben während einer Zeitspanne von über 300 Jahren. Sein Werk reiht sich in die neuere Forschung zur Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit ein. Dank der Beschränkung auf die Nacht vermag der Verfasser die Ergebnisse der Wissenschaft zu akzentuieren. In der normativen Schriftlichkeit und den Quellen zur Rechtsprechung sind die lichtlosen Stunden eine neuralgische Zeit. Spätestens seit Hans Medicks Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Ge­schichte (1996) ist bekannt, wie fruchtbar mikro­historische Untersuchungen einer Ortschaft sein können. Dem entsprechend verlässt Casanova seine engen zeitlichen und örtlichen Grenzen nicht. Im Aufbau des Buchs spiegelt sich die scharfe Trennung zwischen Tag und Nacht, zwischen Stadt und Landschaft, welche die Mentalität der Frühen Neuzeit prägte. Der Autor stützt sich auf normatives Schriftgut wie Sittenmandate, Verbotsbücher und Ratsmanuale. Die obrigkeitliche Sicht kontrastiert er mit den Protokollen der Reformationskammer und Gerichtsakten, von denen er erfahren will, «wie es in den Zürcher Gassen nachts tatsächlich zu und her ging». (18 f.) Es fragt sich allerdings, ob sich daraus «realitätsnahe Rückschlüsse» (19) ziehen lassen, wie es Casanova anstrebt. Vor dem etwas vereinfachenden Blick auf die «Differenz von Norm und Wirklichkeit» (474) – wobei Sittenmandate die Norm, die Gerichtsakten die Wirklichkeit zeigen sollen –, wäre man durch den Einbezug aktueller Schriftlichkeitsforschung gefeit gewesen. Die grossen Sozialdisziplinierungstheorien von Elias bis Foucault handelt Casanova in einem knappen Theoriekapitel ab und verwirft sie als zu undifferenziert. Er präferiert jene Forschungszweige, die eine harte Unterscheidung zwischen Obrigkeit und Untertanen ablehnen. Die disziplinierende Funktion von Familie und Nachbarschaft war entscheidender als die teils recht hilflosen Versuche der Obrigkeit. Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil, der longue durée verpflichtet, spannt sich von 1523 bis 1798. Verschiedene Aspekte der frühneuzeitlichen Stadtgesellschaft werden beleuchtet, Vorschriften wie das Mittragen von Laternen, Bemühungen um die Brandverhütung, der Kampf gegen Unfug, Diebstahl und Einbruch erläutert. Die Nacht ist rechtlich abgegrenzt, begangene Straftaten wiegen schwerer. Casanova geht auf einzelne Akteure ein, die das Gassenleben prägten, Gesellen, einheimische Jugendliche und Wirtshausbesucher, sodann die Fest- und Spielkultur der Zeit. Die Diskrepanz zwischen dem obrigkeitlichen Anspruch und dem, was die Gerichtsquellen berichten, ist beträchtlich. Die strengen Sperrstunden etwa (21 Uhr), hat man oft umgangen. Der Verfasser begründet diesen Umstand mit der Unfähigkeit, schlagkräftige Ordnungsorgane aufzubauen. Die Zürcher Nachtwache war hierfür kein geeignetes Instrument. Es herrschte allgemeine Wachtpflicht; ausgenommen waren nur Geistliche, Ratsmitglieder und die Beamten der Stadt. Die Motivation, die Mitbürger zu disziplinieren, war klein, die Nachtwächter sind oft zechend in Zunfthäusern anzutreffen. Auch die Stundenrufer waren eher geeignet, auditive Signale obrigkeit­licher Präsenz auszusenden als die Normen durchzusetzen, zumal ihr soziales Ansehen gering war. In der Frühen Neuzeit lebte man im Rhythmus des Lichttags, die Grenzen akzentuierten Glocken- und Trompetensignale, mit denen sich die Stadttore schlossen. Besonders spannend sind die Fälle, in denen Mitglieder der führenden Familien der Stadt gegen die Normen ver­stossen – sie zeigen die Geschmeidigkeit der rechtlichen Praxis. Etwas unvermittelt beginnt der zweite Teil des Buchs, der von 1798 bis 1833 reicht; in diesem Jahr entschied sich der Grosse Rat, die Schanzen zu schleifen. Mit dem Einmarsch der Franzosen ver­ändert sich der Tagesrhythmus. Die Zürcher Nacht wird nie mehr das sein, was sie war. Ausführlich behandelt der Autor die Zäsur der Helvetik und zeigt, wie man während der Restauration nicht mehr zum vorgängigen Zustand zurückkehren kann. Glanzlichter sind die Einführung der Strassenbeleuchtung und die Entwicklung von Ordnungsinstanzen im Rahmen von Kompetenzstreitigkeiten zwischen Stadt und Kanton. Casanova zitiert ausgiebig, was die Lektüre von Nacht-Leben zum Vergnügen macht. Er wählt die Quellen nicht aus, weil sie zufällig in der Nacht spielen, sondern weil sie die Nacht erklären. Eine stupende Quellenkenntnis zeichnet die Dissertation aus. In ihr lässt sich alles zum Thema «Nacht» finden. Wer wissen will, wann und wo in Zürich der erste gusseiserne Laternenpfosten aufgestellt wurde – hier kann man es lesen. Wer glaubt, solches Wissen sei überflüssig – Christian Casa­nova vermag in seiner Studie vom Gegenteil zu überzeugen.
Nanina Egli (Zürich) in: Traverse 2009, Heft 1