Topografien der Nation
Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert
Gebunden
2002. 248 Seiten, 8 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-0548-7
CHF 44.00 / EUR 29.90 
  • Kurztext
  • Autor/in
  • In den Medien
Landkarten ordnen den Raum und bestimmen die Verhältnisse seiner natürlichen und politischen Elemente. Wer über die entsprechende kartografische Lektüretechnik verfügt, dem steht die Karte als räumliches Orientierungsmittel, als politische Entscheidungsgrundlage oder als Instrument der sozialen Selbstverortung zur Verfügung.
Auch die Kartografie des 19. Jahrhunderts hat dieses Ziel verfolgt und dafür eigene Wege und Methoden entwickelt. Dank wissenschaftlicher Präzision, abstrakter Ästhetik und organisatorischer Innovation hat sie Produkte hervorgebracht, die sich einer neuartigen Legitimation durch Verfahren erfreuten. Die neuen Bilder ermöglichten gleichzeitig eine nationalistische Lektüre die Landschaft und die kartografische Reproduktion der Nation.
Die Selbstverständlichkeit, mit der sich Karte und Nation gegen Ende des Jahrhunderts schliesslich zur Deckung bringen liessen, hat eine Geschichte, die nur als historische Konfiguration von Politik, kartografischer Ordnung und Landschaft verstanden werden kann. Sie ist Gegenstand dieses Buches. Am Beispiel der schweizerischen Landesvermessung, die zwischen 1832 und 1865 unter der Leitung von General Guillaume-Henri Dufour durchgeführt worden ist, untersucht «Topografien der Nation» die sozialen Voraussetzungen der kartografischen Lesbarkeit der Welt.

David Gugerli, geb. 1961, ist ordentlicher Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich. In seinen Forschungsprojekten beschäftigt er sich mit der Geschichte der Energieversorgung, der technisch-wissenschaftlichen Erfassung von Räumen, der Entwicklung digitaler Telekommunikationsweisen und der Genese des technisierten menschlichen Körpers.


Bücher im Chronos Verlag


Aufsätze im Chronos Verlag


Herausgeber/in der Reihe


Dr. Daniel Speich, geb 1969 in Kibuye, Rwanda. Studium der Geschichte, Philosophie und Ethnologie an der Universität Zürich. Assistent am Institut für Geschichte an der ETH in Zürich. 1997 Lizentiatsarbeit über «Papierwelten. Eine historische Vermessung der Kartographie im Kanton Zürich des späten 18. und des 19. Jahrhunderts». Dissertation über den Bau des Linthkanals und Mitarbeit an einem Projekt über die nationalstaatliche Vermessung der Schweiz unter G. H. Dufour (mit David Gugerli). 2003 Ruf an die TU-Braunschweig als Juniorprofessor für Neuere Geschichte (Schwerpunkt Europäische Technik- und Umweltgeschichte).
Institut für Geschichte der ETH Zürich, ETH Zentrum WEB, CH-8092 Zürich; speich@history.huwi.ethz.ch


Bücher im Chronos Verlag


Aufsätze im Chronos Verlag

Pressestimmen
«David Gugerli und Daniel Speich leisten einen bedeutenden Beitrag zu einer zur politischen Gesellschaftsgeschichte Kartografiegeschichte. Zugleich ergibt sich daraus eine kartographiegeschichtliche Bereicherung der Nationalismusforschung. Nicht zuletzt durch die Selbstverortung der Rezipienten tritt die nationale Landkarte als ein Medium, und im Wortsinn als Unterlage des eigentlich Unfassbaren der imaginierten Gemeinschaft hervor. Eine solche komplexe ÐTopografie der Nationð ermittelt zu haben, verdankt sich dem intensiven Quellenstudium wie der hohen Theoriefreude der Autoren gleichermaßen.» Markus Kirchhoff

Besprechungen
Das historische Buch Alpen, Karten und Kopflandschaften Die Geschichte der «Topographischen Karte der Schweiz» Bergwanderer wissen Bescheid: Natürlich verzeichnen Landkarten mit grosser Präzision topographische Realitäten. Dabei produzieren sie aber Bilder, die mindestens ebenso wirklich sind wie jene Schrunden und Grate, die sie abbilden. Zwischen Berg und Kartenblatt entsteht etwas Neues, in dem wir unseren Weg erst finden müssen, weit entfernt von jener beruhigenden Abstraktion, auf der die Autorität der Karte beruht. David Gugerli und Daniel Speich erzählen in «Topographien der Nation» die Geschichte jenes Bildes der Eidgenossenschaft, das im 19. Jahrhundert wie kein anderes gleichzeitig als technische Höchstleistung wie als nationale Selbstdarstellung fungierte: der unter der Leitung von Guillaume-Henri Dufour zwischen 1832 und 1865 hergestellten «Topographischen Karte der Schweiz». Die insgesamt 25 Blätter der Dufour- Karte erhielten innerhalb weniger Jahre eine Reihe internationaler Auszeichnungen. Gefeiert als Meilenstein neuer kartographischer Technik und Präzision, wurde die Karte rasch zum Sinn- Bild der Nation und zur aufwendig inszenierten «Perle» der Landesausstellung von 1883. Ab 1876 verzeichnete sie auch die 4634 Meter hohe Dufourspitze - als Denkmal für die Verdienste des Wissenschafters und Militärs um die «bildliche Darstellung des Schweizerlandes», wie sein Biograph Walter Senn zwei Jahre später schrieb. Die Karte vermerkt also auf dem Gipfel des Monte Rosa ihre eigene Entstehungsgeschichte. Die Karten und die Alpen sind offenbar keine so vollständig voneinander unabhängigen Grössen, wie wir es auf den ersten Blick annehmen. Gugerlis und Speichs Studie ist den Wechselwirkungen zwischen der Topographie und ihren Gegenständen gewidmet. Im Lauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwandelte sich die Kartographie von einer obrigkeitlich-militärischen Geheimsache (eine gerade vollendete Karte des Kantons Solothurn wurde etwa 1798 prompt von den Franzosen konfisziert) in eine triumphierend ausgestellte nationale Selbstdarstellung. Mühen des Wissenschaftsmanagements Wie die meisten anderen Ikonen wurden allerdings auch Nationaltopographien durch eine Kombination jener beiden Techniken produziert, auf denen jedes wirksame Abbild von Wirklichkeit beruht, nämlich Verdichtung und Retusche. Entstand doch der Gegenstand von Dufours Karte, der nach einheitlichen Kriterien messbare Raum des modernen Nationalstaats, nicht vor, sondern parallel zu seiner kartographischen Abbildung. Noch 1847 beklagte der Zürcher Staatsschreiber Hottinger, die «Staatswirtschaft» der einzelnen Kantone sei grösstenteils noch von «mittelalterlichem Charakter»; dem Projekt einer zentralisierten topographischen Erfassung schlug offenes Misstrauen entgegen. Die Geschichte der Dufour-Karte kann deshalb geradezu als Lehrstück in praktischem Wissenschaftsmanagement gelesen werden. Der Verantwortliche musste nicht nur Wissenschafter, Präzisionstechniker und erfolgreicher Militär sein, sondern gleichzeitig auch gewiefter Unterhändler, Schreiber eleganter Briefe und flexibler Selbstdarsteller. Gugerli und Speich zeigen, wie das Forschungsprojekt sich selbst als Neuanfang inszenieren musste, seine Vorgänger also gewissermassen zum Verschwinden brachte, um die notwendigen Gelder und die föderale Legitimation zu erhalten. Dufour musste dabei auch verschweigen, wie viel das Projekt insgesamt kosten würde; er stellte geduldig Jahr für Jahr neue Anträge - heutigen Forscherinnen und Forschern mag das bekannt vorkommen. Dufours wissenschaftliche Leistung beruhte ebenso auf solchem politischen Pragmatismus wie auf den Leistungen seiner frierenden Ingenieure mit Theodolit und Messstangen. Er habe «sechs lange Wochen im Zürcher Tösstal nur mit Zeitungslesen verbringen» müssen, klagte einer von ihnen, jenes anderen spezifischen Schweizer Phänomens wegen, das seine Arbeit prägte - des Nebels nämlich. Wissenschafter mit Zeitmaschinen «Topographien der Nation» handelt nicht nur von eidgenössischen Befindlichkeiten im 19. Jahrhundert und den politischen Zwängen, denen Dufours Arbeit unterlag. Den Autoren gelingt es, zu zeigen, wie jenes Unternehmen in der Praxis «funktionierte», soll heissen, mit Hilfe welcher Formeln und Versatzstücke das eidgenössische Grossprojekt durchgesetzt wurde. Wenn Wissenschaft erfolgreich ist, so lernen wir, dann nicht ausschliesslich wegen ihrer technischen und sachlichen Meriten, sondern auch deswegen, weil sie ihre eigenen Vorläufer zuerst zum Verschwinden brachte und sie dann wieder im Nachhinein als erfolgreiche eigene «Vaterfiguren» und nachträgliche Zeugen neu placierte. Jeder gute Wissenschaftsorganisator hat gewissermassen seine eigene kleine Zeitmaschine, mit deren Hilfe er die Vergangenheit rückwirkend ein wenig verändert - auch das kann modernen Wissenschaftern durchaus vertraut vorkommen. Schliesslich ist Gugerlis und Speichs Buch gleichzeitig eine Geschichte des Blicks auf die Berge. Es handelt nicht nur von virtuellem Vogelflug über die Alpen - lange bevor es Schweizer Flugzeuge gab -, sondern auch vom gelegentlich harschen grounding dieses Blicks in den alpinen Realitäten «de nos affreuses montagnes», wie Dufour in einem seiner weniger optimistischen Momente formulierte. Sein ins Feld geschickter Vermesser Eschmann schrieb 1839 über die widerspenstigen Bewohner des Wallis verzagt an seinen Vorgesetzten, die der linken Talseite seien noch schlimmer als die der rechten; aus dem Oberhalbstein meldete er verbittert, mit Türken komme er besser zurecht als mit Ortsansässigen. Beruhte der Erfolg der topographischen Blätter der Schweiz nicht auch auf der Tatsache, dass die Berge manchmal aus der Entfernung am schönsten sind? Die Dufour'sche Karte prägte den Blick auf die Alpen jedenfalls so grundlegend, dass Albert Heim 1897 bei seinem Ballonflug über die Schweiz feststellte, die Berge sähen von oben viel weniger echt aus als auf der Karte. Wer sah also jeweils was, wenn Berge auf Karten verzeichnet wurden? Nationale Topographien sind von jeher Unternehmungen in Selbstzentrierung. Das war schon bei Albrecht von Bonstetten so, der 1479 seine «Superiorum Germaniae Confederationis urbium descriptio» zeichnete, vier grosse kreisförmige Kartenskizzen, in denen die Eidgenossenschaft die Mitte Europas darstellte und der Rigi die Mitte dieser Mitte. Jede kartographische Darstellung schafft ein solches Verhältnis zwischen Äusserem und Innerem in Bezug auf ein solches Zentrum - im Schweizerblick sind dies die Berge. Aber diese Mitte ist eigentümlich leer: Die Alpen enthüllen ja nichts, wenn man sie anschaut, sie stehen einfach nur stumm und etwas stur da. Ein zeitgenössischer Schriftsteller hat dieses ambivalente Gefühl schön zusammengefasst in der Formulierung, ihm seien als Kind die trüben Tage am liebsten gewesen, an denen man den Bürgenstock nicht gesehen habe. Das habe ihm dann ein Gefühl der Weite gegeben. Karten, so lehrt die Geschichte des grossen Projekts von Guillaume-Henri Dufour und seinen Mitarbeitern, verändern das, was sie abbilden. Valentin Groebner David Gugerli und Daniel Speich: Topographien der Nation. Politik, kartographische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert. Chronos-Verlag, Zürich 2002. 264 S., Fr. 44.-. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ. Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Mittwoch, 20.02.2002 Nr.42 62 (c) 1993-2000 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 1