Der Wille zur Geschichte
Schweizergeschichte um 1900 – die Werke von Wilhelm Oechsli, Johannes Dierauer und Karl Dändliker
Broschur
2002. 317 Seiten
ISBN 978-3-0340-0539-5
CHF 48.00 / EUR 32.90 
  • Kurztext
  • Autor/in
  • In den Medien
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stand die politische Elite des jungen Schweizer Bundesstaats vor der Frage, wie sich aus der konfessionell und politisch gespaltenen Bevölkerung ein Volk formen liess ­ analog der Entwicklung in den Nachbarstaaten. Wilhelm Oechsli, Johannes Dierauer und Karl Dändliker leisteten dazu einen eminent wichtigen Beitrag, indem sie (in Ergänzung zueinander) der fragmentierten Nation eine national zentrierte, identitätsstiftende Schweizergeschichte schufen. Sie versöhnten kritische Wissenschaft mit populärer Sage.
Mit der vorliegenden Dissertation wird die historiographische Leistung der drei einflussreichsten Geschichtsforscher um 1900 auf ihre Funktionsweise hin untersucht. Die Gesamtwerke Wilhelm Oechslis, Johannes Dierauers und Karl Dändlikers werden dabei als exemplarische Quellen zur Erschliessung des dominanten nationalhistorischen Diskurses analysiert, um den imaginären Bilderraum zu erschliessen, in dem das Schweizervolk über die Antizipation eines kollektiven Leibes ­ eines Schweizer Leviathan ­ zu einer kollektiven Identität fand, welche die Schweizer Geschichtsforschung bis heute prägt.
Besprechungen
Halluzinierte Vergangenheit Frühe Schweizer Nationalgeschichte Historiker müssen träumen, wenn sie nicht das einst Gewesene bloss auf das mehr oder weniger zufällig Überlieferte reduzieren wollen - für diese Einsicht lassen sich grosse Namen wie Jacob Burckhardt oder Georges Duby anführen. Sie ist aber auch problematisch, und in diesem Spannungsfeld legitimiert sich die Geschichtswissenschaft bei ihrer Abgrenzung vom historischen Roman. Der Zürcher Historiker Karl Dändliker (1849-1910) formulierte die Problematik 1884 sehr grundsätzlich: Die «(quellen)kritische Schule» des 19. Jahrhunderts hatte die eidgenössischen Mythen von Tell bis Winkelried zerzaust und damit wissenschaftliche Historiographie und populäre Geschichtsbilder geschieden. Wie liess sich dieser neuartige Gegensatz wieder überbrücken, gerade wenn die Geschichte - wie im vorbildlichen Deutschland um 1871 - volkspädagogische, einheitsstiftende und damit zentrale politische Aufgaben übernehmen sollte? Sascha Buchbinder untersucht mit einem breiten theoretischen Instrumentarium, das von Freud über Benjamin und Halbwachs zu Barthes und Lacan führt und in seiner Exposition fast den halben Text beansprucht, die Begründer der modernen schweizerischen Nationalgeschichtsschreibung: neben Dändliker den St. Galler Johannes Dierauer (1842-1920) und den Zürcher Wilhelm Oechsli (1851-1919). Ausgehend von der Sekundärliteratur entwickelt Buchbinder das anregende Konzept einer «imaginären» oder «halluzinierten Geschichte», wie sie Dändliker am stärksten, Dierauer am wenigsten betrieben habe: Historische Bruchstücke werden nicht auf ihren Kontext bezogen, sondern unter Verkennung der zeitlichen Distanz als «wahre» Bilder von einst in die Gegenwart geholt, zu einem nationalgeschichtlichen «Film» montiert und für Träumende erlebbar gemacht. Solide Urkunden bilden die Ecksteine, doch um sie zu verbinden, bedient man sich des geistigen Gehalts der als solche zurückgewiesenen Mythen (Tugend, Freiheitsliebe, Abwehrkampf usw.). Die mittelalterlichen Recken sind Präfigurationen der bundesstaatlichen Liberalen, womit eine auf das Telos Nationalstaat ausgerichtete Darstellung zum Stillstand kommt, ohne sich richtig bewegt zu haben - wie auch Natur und Territorium des Landes von jeher vorgegeben sind. Mit diesem identitätsstiftenden Gemälde im Herzen und damit am Ende der nationalen Geschichte, die immer schon das sein wollte, was sie jetzt geworden ist, soll der Schweizer Patriot wirken. Buchbinder bezweckt keine «denunziatorische Entlarvung» der drei Historiker in dem Sinn, dass sie sich bewusst als nationalstaatliche Ideologen hätten einspannen lassen. Gleichwohl fragt man sich, ob die biedere schweizerische Historiographie des 19. Jahrhunderts nicht gelegentlich dem theoretischen Ballast des Verfassers erliegt, wenn dieser etwa bei Oechsli «protoreligiöse Geschichtsschreibung», «Nationalgeschichte als profane Religion» und «historische Bücher als Bibel- Surrogate» ausmacht. Insbesondere die unablässige «Halluzination» klingt danach, als sehe sich Buchbinder nicht in einer historiographischen Tradition, sondern erhaben über die Anliegen und Probleme der Nationalhistoriker. Gibt es tatsächlich das «in den Quellen vorhandene Bild», das sich wissenschaftlich etablieren und der sagenhaften, chronikalischen oder eben nationalgeschichtlichen Erzählung gegenüberstellen lässt? Wenn sich Historiographie - wie einst bei Joseph Eutych Kopp oder nun bei Sascha Buchbinder - der partiellen Dekonstruktion unplausibler Überlieferungen widmet, dann ist dies ebenso notwendig und zeitbedingt wie die - kontrolliert träumende - Konstruktion von Metaerzählungen, welche neue Forschungsresultate und Quellen gegenwartsbezogen synthetisieren. Im Falle der Nationalhistoriker war dies die monumentale Edition der «Eidgenössischen Abschiede», ein Kontext, den Buchbinder ausser acht lässt. Thomas Maissen Sascha Buchbinder: Der Wille zur Geschichte. Schweizerische Nationalgeschichte um 1900 - die Werke von Wilhelm Oechsli, Johannes Dierauer und Karl Dändliker. Chronos, Zürich 2002. 317 S., Fr. 48.-. Publiziert mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Samstag, 06.12.2003 Nr.284 89 (c) 1993-2004 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 3