David Farbstein (1868–1953)

Jüdischer Sozialist – sozialistischer Jude

Mit einem Geleitwort von Felix Rom und Paul Rechsteiner

Gebunden
2002. 281 Seiten, 16 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-0502-9
CHF 42.00 / EUR 28.90 
  • Kurztext
  • Autor/in
  • Einblick
  • In den Medien

David Farbstein, in orthodoxem Milieu in Warschau geboren, studierte nach einer Rabbinerausbildung in Osteuropa in Deutschland und der Schweiz Jurisprudenz. Nach seiner Einbürgerung 1897 liess er sich als Anwalt in Zürich nieder und trat gleichzeitig der Israelitischen Cultusgemeinde (ICZ) und der Sozialdemokratischen Partei (SP) bei. Von 1896 bis 1908 war er mit der Ärztin und aktiven Sozialdemokratin Betty Ostersetzer verheiratet.
Als Politiker beteiligte er sich am Kampf der SP für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter. Als Anwalt führte er viele politische Prozesse und sogenannte Frauenprozesse. 1922-1938 erhob er als Nationalrat und Jurist die Stimme des Fortschritts in der Beurteilung von Straftaten und Straftätern. Gerade auf Grund seiner für einen Sozialdemokraten nicht selbstverständlichen religiösen Bindungen beharrte er auf der scharfen Trennung zwischen religiösen Geboten und juristischen Strafbestimmungen und auf der Abschaffung der Todesstrafe.
In den jüdischen Organisationen, dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) und der ICZ, war er ein früher Kämpfer für Gleichberechtigung nach innen und aussen, für die Anliegen der Orthodoxie, der Ostjuden und der Zionisten sowie gegen den Antisemitismus. Mit unverblümten öffentlichen Reaktionen auf Judenfeindlichkeit erschreckte er die jüdischen Taktiker und blieb lange der Sprecher einer kleinen, von vielen jüdischen «Notabeln» ungeliebten Minderheit.
Am Wirken David Farbsteins lassen sich exemplarisch Konfliktsituationen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im schweizerischen jüdischen und sozialdemokratischen Umfeld aufzeigen. Anhand zahlreicher Artikel Farbsteins aus der sozialdemokratischen und jüdischen Presse sowie vieler, meist unveröffentlichter Quellen v. a. aus den Archiven des SIG, der ICZ und der Central Zionist Archives, Jerusalem, wird dieses Wirken nachvollziehbar gemacht.

(1931–2014)
Hanna Zweig-Strauss, Ärztin, nach der Berufsaufgabe intensive Auseinandersetzung mit der neueren jüdisch-schweizerischen Geschichte.

Textauszug

«Ich war stets, was ich jetzt bin, Jude und Sozialist. […] Als Jude fühlte ich als Mensch ­ und wurde Sozialist, denn als Menschen sind wir geboren. Als Mensch fühlte ich als Jude, da die Menschen uns fühlen lassen, dass wir Juden sind.»

David Farbstein an Theodor Herzl, 3. Sept. 1903:
«Innerlich bin ich der unglücklichste Mensch auf der Welt. Ich bin, ich weiss nicht, wie ich es sagen soll, leider oder zum Glück ein rel. Jude. Mein Ideal war einst, als Jude zu leben und als Jude zu wirken. Leider bin ich in einer Zwitterstellung. Von einem jüdischen Milieu kann in Zürich überhaupt nicht die Rede sein. Ich bin eine Art Zwittergeschöpf. Als Jude kann ich nur wenig wirken, meine öffentlich, gemeinnützige Tätigkeit muss hier eine nichtjüdische sein. Aber auch als Mensch kann ich mich nicht ausleben. Um in dem Sinne als Schweizer zu wirken, wie ich es wollte und könnte, müsste ich aufhören, Jude zu sein. Man muss als Jude sterben, wenn man anders voll und ganz leben soll. Sie als feiner Kenner der menschliche


Pressestimmen

Zwischen Judentum und Marxismus

Eine Biographie über David Farbstein

Erfolg und Versagen, jähe Abstürze und einige Triumphe liegen im Leben von David Farbstein nahe zusammen. Selber hat er sich einmal als eine «Art Zwittergeschöpf» bezeichnet. Farbstein war überzeugter Marxist, konnte aber als Jude seine religiösen Ursprünge nicht abstreifen. Er wurde in Polen geboren, fand aber in der Schweiz eine neue Heimat. Er war Zionist, wanderte aber nicht nach Palästina aus, weil er seine Aufgabe als Vermittler zwischen den diffamierten Ostjuden und der einheimischen schweizerischen Judenschaft als vordringlich ansah. Aus diesen Widersprüchen formte sich der Geist von David Farbstein. Er war ebenso wach wie unruhig, seine unverblümte Art konnte gleicherweise faszinieren und verletzen.
Heute ist Farbstein fast vergessen. Ihn wieder in Erinnerung gerufen zu haben, ist das Verdienst von Hanna Zweig-Strauss, die in einer einfühlsamen Biographie den Spuren seines Lebens und Wirkens nachgeht. Es ist ein Werk, das sich nicht leicht bewältigen lässt und dem Leser viel Geduld und Ausdauer abfordert. Die Fülle der Ereignisse, welche die Verfasserin mit ausgesprochener Liebe zum Detail zusammengetragen hat, packt ebenso, wie sie gelegentlich verwirrt. Aber die Mühe lohnt sich. Farbstein erscheint als Vorläufer einer Tragik, die in unseren Tagen zu immer grösseren Dimensionen angewachsen ist. Ungezählte Flüchtlinge befinden sich heute weltweit auf einer Wanderung. Sie suchen eine neue Heimat und streben zugleich danach, ihre Traditionen und die überlieferte Eigenart nicht zu verlieren.

Bekenntnis zu Herkunft und Sozialismus

Farbstein wurde 1868 in dem damals zum Zarenreich gehörenden Warschau geboren, als der russische Antisemitismus in dauerndem Anschwellen begriffen war. Als Junge erhielt er eine Ausbildung zum Rabbiner; als Heranwachsender fühlte er sich vom Studium, von ökonomischen und juristischen Fragen mehr angezogen, doch wurde ihm als Juden der Zugang zur Hochschule versperrt. Den Folgen des Schicksals, am falschen Ort in eine falsche Zeit hineingeboren zu sein, wich er wie viele andere aus, indem er nach einer Zwischenstation in Berlin 1894 als 26-Jähriger in die Schweiz ging und sich an der Universität Zürich einschrieb.
Schon in Warschau hatte Farbstein sich mit Vorläufern der zionistischen Bewegung zu einem Bund zusammengeschlossen. Als später Theodor Herzl seine Schriften veröffentlichte, in denen er die Errichtung eines Judenstaates verlangte, bedeutete das für Farbstein Bestätigung und Auftrieb. Er verband sein Credo mit den Erfahrungen als Angehöriger einer verfolgten Minderheit in Russland, wo er zum Marxisten geworden war. Damit war sein weiterer Weg vorgezeichnet. Das Bewusstsein seines Judentums und der Kampf gegen vermeintliche und tatsächliche Ungerechtigkeiten wurden zum Leitmotiv seines Handelns. Es focht ihn dabei nicht an, dass er, wie Hanna Zweig es formuliert, sich vorzüglich dafür eignete, «praktisch alle bestehenden Vorbehalte und Vorurteile gegenüber der Sozialdemokratie und den eingewanderten Ausländern zu personifizieren».

Wirken in jüdischen Gemeinschaften . . .

Farbsteins öffentliches Wirken bewegte sich in drei Kreisen: in der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ), in der kommunalen, kantonalen und eidgenössischen Politik und in der Anwaltschaft in Prozessen. Unmittelbar nach seiner Einbürgerung im Jahre 1897 war Farbstein der ICZ beigetreten. Er fühlte sich hier wie auch im Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) als Vertreter der auch von ihren eigenen Glaubensgenossen diffamierten Ostjuden. Unermüdlich wies er darauf hin, dass es keinen Unterschied unter Juden gebe, dass die Judenschaft als Ganzes gesehen werden müsse. Damit stiess er bei der Leitung von SIG und ICZ auf starken Widerstand. Farbstein liess sich dadurch nicht beirren und nahm es in Kauf, dass er sich dabei mit manchen Freunden entzweite. Er versuchte, gelegentlich sogar mit Erfolg, die autoritären Strukturen der beiden Gemeinschaften aufzubrechen und sie auf den Weg zu mehr demokratischen Entschlüssen zu führen. Die zum Teil heftig geführte Kontroverse ging um die Frage, ob die in der Schweiz alteingesessenen Juden mehr Gewicht haben sollten als die meist aus östlichen Ländern neu zugewanderten. Als Zionist glaubte Farbstein nicht an die von den einheimischen Juden angestrebte Assimilation, sondern strebte ein verstärktes jüdisches Selbstbewusstsein an. So wandte er sich immer wieder gegen die leisetreterischen Handlungen der jüdischen Gemeinschaften und forderte mehr Eigenständigkeit.

. . . in der Politik . . .

Den politischen Bereich seines öffentlichen Wirkens umschrieb Farbstein mit den knappen Worten, er fühle sich «als parlamentarischer Kämpfer für ein neues Recht». Er gehörte nicht zu der Gilde der Vielredner, sondern bevorzugte die stille Arbeit im Hintergrund. Schon 1902 war er in den Kantonsrat gewählt worden, 1906 in den Grossen Stadtrat, und 1922 wurde er Nationalrat. Auch auf diesen Ebenen agierte er für die verfemten Ostjuden, denen die Einbürgerung praktisch unmöglich gemacht wurde. Damit verärgerte er manche Genossen seiner eigenen Partei. Darüber hinaus aber richtete er auch den Blick auf das Ganze. Er kämpfte mit Vehemenz gegen die Todesstrafe, leistete seinen Einsatz im Kampf gegen die «Leges Häberlin», die 1922 und 1934 eine Verstärkung des Staatsschutzes verlangten, und setzte sich für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruches ein. Es war für ihn eine späte Genugtuung, dass 1938 das Schweizervolk das neue Strafgesetzbuch annahm, das die Todesstrafe aus dem zivilen Recht strich.

. . . und als Jurist

Seinem Broterwerb ging Farbstein als Anwalt nach. Er hatte nach einigen Schwierigkeiten, offenbar auch persönlicher Natur, seine Examen abgelegt. Auch bei den Gerichten spürte er den latenten Antisemitismus, der sich vor allem gegen ihn als «Juristen mit talmudischen Methoden» richtete. Doch Farbstein liess sich wiederum nicht beirren. Seine Mandanten stammen durchwegs aus Schichten, die Farbstein als «entrechtet» ansah. Er verteidigte wegen Schwangerschaftsabbruches Angeklagte und 1918 vor Militärgericht die Jungkommunisten, die für die im Jahr zuvor in Zürich ausgebrochenen schweren Unruhen verantwortlich gemacht worden waren. Den grossen Auftritt hatte Farbstein 1919 in dem in Bern stattfindenden Prozess gegen die Urheber des Landesstreiks von 1918. Er hatte das Mandat übernommen, obwohl er grundsätzlich der Landesverteidigung positiv gegenüberstand. Die Richter ermahnte er, wohl nicht zu ihrer Freude, dass in allen politischen Prozessen später die Geschichte ihr eigenes Urteil fällen werde, da häufig «die sogenannten Verbrecher die Träger der Idee von morgen sind, die auftreten gegen die Erben der Vergangenheit». Farbsteins Vision war richtig: Einen der damals Verurteilten, Ernst Nobs, wählte die Bundesversammlung 1943 als ersten Sozialdemokraten in die Landesregierung.
Die letzten Jahre von Farbsteins Leben, der 1953 starb, waren überschattet durch das Aufkommen der Nazis in Deutschland und die Frontenbewegung in der Schweiz. 1938 trat er aus dem Nationalrat zurück. Dass die neuen deutschen «Herrenmenschen» den Juden, ungeachtet ihrer Herkunft aus Ost oder West, keine Chance liessen, stellte sich im Laufe des von Hitler vom Zaun gerissenen Krieges immer deutlicher heraus und wurde zur schrecklichen Gewissheit.
Es ist verdienstvoll, dass Hanna Zweig den sich immer mehr zum tüchtigen Staatsbürger wandelnden unermüdlichen Streiter Farbstein ins Gedächtnis zurückgerufen hat. Der eingebürgerte Ostjude, der demonstrativ mit jiddischem Akzent sprach, bleibt in unserer Geschichte eine ungewöhnliche Persönlichkeit. Dass es David Farbstein gelang, in den Parlamenten und anderswo zum gesuchten Spezialisten für juristische Fragen zu werden, zeigt, dass stilles Wirken im Hintergrund mehr Früchte tragen kann, als es uns heute eine sich nur an Akten und Dokumenten orientierende Betrachtung der Vergangenheit glauben machen will.

Alfred Cattani

Hanna Zweig-Strauss: David Farbstein (1868-1953). Jüdischer Sozialist - sozialistischer Jude. Chronos-Verlag, Zürich 2002. 281 S., Fr. 42.-.

Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Samstag, 18.05.2002 Nr.113 107
(c) 1993-2000 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 1
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.


Besprechungen

Zwischen Judentum und Marxismus

Eine Biographie über David Farbstein

Erfolg und Versagen, jähe Abstürze und einige Triumphe liegen im Leben von David Farbstein nahe zusammen. Selber hat er sich einmal als eine «Art Zwittergeschöpf» bezeichnet. Farbstein war überzeugter Marxist, konnte aber als Jude seine religiösen Ursprünge nicht abstreifen. Er wurde in Polen geboren, fand aber in der Schweiz eine neue Heimat. Er war Zionist, wanderte aber nicht nach Palästina aus, weil er seine Aufgabe als Vermittler zwischen den diffamierten Ostjuden und der einheimischen schweizerischen Judenschaft als vordringlich ansah. Aus diesen Widersprüchen formte sich der Geist von David Farbstein. Er war ebenso wach wie unruhig, seine unverblümte Art konnte gleicherweise faszinieren und verletzen.
Heute ist Farbstein fast vergessen. Ihn wieder in Erinnerung gerufen zu haben, ist das Verdienst von Hanna Zweig-Strauss, die in einer einfühlsamen Biographie den Spuren seines Lebens und Wirkens nachgeht. Es ist ein Werk, das sich nicht leicht bewältigen lässt und dem Leser viel Geduld und Ausdauer abfordert. Die Fülle der Ereignisse, welche die Verfasserin mit ausgesprochener Liebe zum Detail zusammengetragen hat, packt ebenso, wie sie gelegentlich verwirrt. Aber die Mühe lohnt sich. Farbstein erscheint als Vorläufer einer Tragik, die in unseren Tagen zu immer grösseren Dimensionen angewachsen ist. Ungezählte Flüchtlinge befinden sich heute weltweit auf einer Wanderung. Sie suchen eine neue Heimat und streben zugleich danach, ihre Traditionen und die überlieferte Eigenart nicht zu verlieren.

Bekenntnis zu Herkunft und Sozialismus

Farbstein wurde 1868 in dem damals zum Zarenreich gehörenden Warschau geboren, als der russische Antisemitismus in dauerndem Anschwellen begriffen war. Als Junge erhielt er eine Ausbildung zum Rabbiner; als Heranwachsender fühlte er sich vom Studium, von ökonomischen und juristischen Fragen mehr angezogen, doch wurde ihm als Juden der Zugang zur Hochschule versperrt. Den Folgen des Schicksals, am falschen Ort in eine falsche Zeit hineingeboren zu sein, wich er wie viele andere aus, indem er nach einer Zwischenstation in Berlin 1894 als 26-Jähriger in die Schweiz ging und sich an der Universität Zürich einschrieb.
Schon in Warschau hatte Farbstein sich mit Vorläufern der zionistischen Bewegung zu einem Bund zusammengeschlossen. Als später Theodor Herzl seine Schriften veröffentlichte, in denen er die Errichtung eines Judenstaates verlangte, bedeutete das für Farbstein Bestätigung und Auftrieb. Er verband sein Credo mit den Erfahrungen als Angehöriger einer verfolgten Minderheit in Russland, wo er zum Marxisten geworden war. Damit war sein weiterer Weg vorgezeichnet. Das Bewusstsein seines Judentums und der Kampf gegen vermeintliche und tatsächliche Ungerechtigkeiten wurden zum Leitmotiv seines Handelns. Es focht ihn dabei nicht an, dass er, wie Hanna Zweig es formuliert, sich vorzüglich dafür eignete, «praktisch alle bestehenden Vorbehalte und Vorurteile gegenüber der Sozialdemokratie und den eingewanderten Ausländern zu personifizieren».

Wirken in jüdischen Gemeinschaften . . .

Farbsteins öffentliches Wirken bewegte sich in drei Kreisen: in der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ), in der kommunalen, kantonalen und eidgenössischen Politik und in der Anwaltschaft in Prozessen. Unmittelbar nach seiner Einbürgerung im Jahre 1897 war Farbstein der ICZ beigetreten. Er fühlte sich hier wie auch im Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) als Vertreter der auch von ihren eigenen Glaubensgenossen diffamierten Ostjuden. Unermüdlich wies er darauf hin, dass es keinen Unterschied unter Juden gebe, dass die Judenschaft als Ganzes gesehen werden müsse. Damit stiess er bei der Leitung von SIG und ICZ auf starken Widerstand. Farbstein liess sich dadurch nicht beirren und nahm es in Kauf, dass er sich dabei mit manchen Freunden entzweite. Er versuchte, gelegentlich sogar mit Erfolg, die autoritären Strukturen der beiden Gemeinschaften aufzubrechen und sie auf den Weg zu mehr demokratischen Entschlüssen zu führen. Die zum Teil heftig geführte Kontroverse ging um die Frage, ob die in der Schweiz alteingesessenen Juden mehr Gewicht haben sollten als die meist aus östlichen Ländern neu zugewanderten. Als Zionist glaubte Farbstein nicht an die von den einheimischen Juden angestrebte Assimilation, sondern strebte ein verstärktes jüdisches Selbstbewusstsein an. So wandte er sich immer wieder gegen die leisetreterischen Handlungen der jüdischen Gemeinschaften und forderte mehr Eigenständigkeit.

. . . in der Politik . . .

Den politischen Bereich seines öffentlichen Wirkens umschrieb Farbstein mit den knappen Worten, er fühle sich «als parlamentarischer Kämpfer für ein neues Recht». Er gehörte nicht zu der Gilde der Vielredner, sondern bevorzugte die stille Arbeit im Hintergrund. Schon 1902 war er in den Kantonsrat gewählt worden, 1906 in den Grossen Stadtrat, und 1922 wurde er Nationalrat. Auch auf diesen Ebenen agierte er für die verfemten Ostjuden, denen die Einbürgerung praktisch unmöglich gemacht wurde. Damit verärgerte er manche Genossen seiner eigenen Partei. Darüber hinaus aber richtete er auch den Blick auf das Ganze. Er kämpfte mit Vehemenz gegen die Todesstrafe, leistete seinen Einsatz im Kampf gegen die «Leges Häberlin», die 1922 und 1934 eine Verstärkung des Staatsschutzes verlangten, und setzte sich für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruches ein. Es war für ihn eine späte Genugtuung, dass 1938 das Schweizervolk das neue Strafgesetzbuch annahm, das die Todesstrafe aus dem zivilen Recht strich.

. . . und als Jurist

Seinem Broterwerb ging Farbstein als Anwalt nach. Er hatte nach einigen Schwierigkeiten, offenbar auch persönlicher Natur, seine Examen abgelegt. Auch bei den Gerichten spürte er den latenten Antisemitismus, der sich vor allem gegen ihn als «Juristen mit talmudischen Methoden» richtete. Doch Farbstein liess sich wiederum nicht beirren. Seine Mandanten stammen durchwegs aus Schichten, die Farbstein als «entrechtet» ansah. Er verteidigte wegen Schwangerschaftsabbruches Angeklagte und 1918 vor Militärgericht die Jungkommunisten, die für die im Jahr zuvor in Zürich ausgebrochenen schweren Unruhen verantwortlich gemacht worden waren. Den grossen Auftritt hatte Farbstein 1919 in dem in Bern stattfindenden Prozess gegen die Urheber des Landesstreiks von 1918. Er hatte das Mandat übernommen, obwohl er grundsätzlich der Landesverteidigung positiv gegenüberstand. Die Richter ermahnte er, wohl nicht zu ihrer Freude, dass in allen politischen Prozessen später die Geschichte ihr eigenes Urteil fällen werde, da häufig «die sogenannten Verbrecher die Träger der Idee von morgen sind, die auftreten gegen die Erben der Vergangenheit». Farbsteins Vision war richtig: Einen der damals Verurteilten, Ernst Nobs, wählte die Bundesversammlung 1943 als ersten Sozialdemokraten in die Landesregierung.
Die letzten Jahre von Farbsteins Leben, der 1953 starb, waren überschattet durch das Aufkommen der Nazis in Deutschland und die Frontenbewegung in der Schweiz. 1938 trat er aus dem Nationalrat zurück. Dass die neuen deutschen «Herrenmenschen» den Juden, ungeachtet ihrer Herkunft aus Ost oder West, keine Chance liessen, stellte sich im Laufe des von Hitler vom Zaun gerissenen Krieges immer deutlicher heraus und wurde zur schrecklichen Gewissheit.
Es ist verdienstvoll, dass Hanna Zweig den sich immer mehr zum tüchtigen Staatsbürger wandelnden unermüdlichen Streiter Farbstein ins Gedächtnis zurückgerufen hat. Der eingebürgerte Ostjude, der demonstrativ mit jiddischem Akzent sprach, bleibt in unserer Geschichte eine ungewöhnliche Persönlichkeit. Dass es David Farbstein gelang, in den Parlamenten und anderswo zum gesuchten Spezialisten für juristische Fragen zu werden, zeigt, dass stilles Wirken im Hintergrund mehr Früchte tragen kann, als es uns heute eine sich nur an Akten und Dokumenten orientierende Betrachtung der Vergangenheit glauben machen will.

Alfred Cattani

Hanna Zweig-Strauss: David Farbstein (1868-1953). Jüdischer Sozialist - sozialistischer Jude. Chronos-Verlag, Zürich 2002. 281 S., Fr. 42.-.

Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Samstag, 18.05.2002 Nr.113 107
(c) 1993-2000 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 1
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der NZZ.